Shakespeare und die Bacon-Mythen | Page 9

Kuno Fischer
Romeo und Julia.
Ich will nur diejenigen Blätter beachten, welche die Keime, gleichsam
den Rohstoff und die Vorbereitung zu "Romeo und Julia" enthalten

sollen und deshalb von Mrs. Henry Pott selbst für vorzüglich geeignet
erklärt werden, ihre Ansicht zu beweisen. Mit gespannter Erwartung
nehme ich die Blätter zur Hand, mit einer Enttäuschung ohne gleichen
lege ich sie beiseite.
Da steht: "guten Morgen", "guten Abend", "gute Nacht", "Amen", "der
Hahn," "die Lerche", ein lateinischer Vers, welcher die Knaben
ermahnt, früh aufzustehen, aber nicht umsonst, «_mane_» nicht
«_vane_»; ein lateinischer Vers, welcher den Schlaf ein falsches Bild
des eisigen Todes nennt u.s.f.
Diese Brocken sollen unter den Händen Bacons sich in die Quellen
verwandelt haben, denen die größte aller Liebestragödien entströmt ist!
Erst muß im Promus "guten Morgen" und «_bon jour_» gestanden
haben, bevor Mercutio sagen konnte: «_Signor Romeo, bon jour!_» (II.
4). Erst wurde im Promus notirt: "Gute Nacht!", um den Mercutio
sagen zu lassen: "Gute Nacht, Freund Romeo!" Nun erst konnte Julia
sagen: "Und tausendmal gute Nacht!" (II. 2). Im Promus steht "Amen",
um den Romeo auszurüsten und den Segenswunsch des Bruders
Lorenzo bekräftigen zu lassen: "Amen! So sei's!" (II. 6).
Im Promus lesen wir nichts als das Wort "Lerche". Das soll der Keim
sein, woraus das wundervollste aller Liebesgespräche hervorging: die
Worte Julias: "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche!" die Worte
Romeos: "Die Lerche war's, die Tagverkünderin!"
Im Promus lesen wir den lateinischen Vers, welcher den Schlaf ein
falsches Bild des eisigen Todes nennt. Dieser Vers sei der Text zu der
Rede Lorenzos, worin er Julien die erstarrenden Wirkungen seines
Schlaftrunkes schildert (IV. 1), der Text zu den Worten des alten
Capulet, als er die Tochter in der Erstarrung vor sich sieht: "Der Tod
liegt auf ihr, wie ein Maienfrost auf des Gefildes schönster Blume
liegt!"
Nichts wäre erwünschter gewesen, als wenn auf diesen so ergiebigen
Blättern einmal der Name "Romeo" gestanden hätte. Wirklich hat Mrs.
Henry Pott ihn zu finden geglaubt: sie las «_rome_» und hielt es für die
Abkürzung von Romeo. In Wahrheit aber stand nicht «_rome_» da,
sondern «_vane_», wie von sachkundiger Seite nachgewiesen worden.
[Fußnote: Eduard Engel, in Nr. 480 der "Nationalzeitung" vom 25.
August 1894.--Ueber den Promus s. Bormann, S. 271-76.]
Wenn die Erinnerung der Amme an das Erdbeben vor elf Jahren auf die

Entstehung der Dichtung zu beziehen ist, wie Delius gemeint hat, so
würde die letztere in das Jahr 1592 fallen und also einige Jahre früher
entstanden sein als der Promus, der am 5. December 1594 beginnt.
3. Die Vergleichung der Werke.
Wie dem auch sei, Mrs. Henry Pott hat eine neue Art Bacon-Mythen
auf das Tapet gebracht: sie läßt Bacon Vorrathskammern anlegen und
mit Worten und Wörtern füllen, um die Personen seiner Dramen damit
zu speisen. In ihrer nächsten Schrift: "Hat Francis Bacon Shakespeare
geschrieben?" [Fußnote: _Did Francis Bacon write Shakespeare? The
lives of Bacon and Shakespeare compared with the dates and subject
matter of the plays. By the editor of Bacons promus etc. «Look an this
picture and on this.» W. H. Guest a. Co. 1885._--Ueber den Sturm und
Othello vgl. S. 48, S. 61-62.] (1885) hat sie bereits angefangen, die
Werke Bacons mit den Werken Shakespeares zu vergleichen, z. B. die
naturgeschichtliche Abhandlung über die Winde mit dem Lustspiel
"Der Sturm", um deren innere Uebereinstimmung und Einheit zu
erweisen; sie hat damit den Weg betreten und angebahnt, welchen die
jüngste Bacon- Theorie auszubauen sich zur Aufgabe gesetzt hat.
Im übrigen befolgt ihre Beweisart genau jenen Tact, nach welchem der
Marsch der Bacon-Theorie sich richtet. Da der Promus und "Romeo
und Julia" eine Anzahl gleicher Worte und Wörter enthalten, so steht
Romeo und Julia im Promus.
VII. BACONS GROSSE GEHEIMSCHRIFT: MYTHUS ODER
HUMBUG?
Die ganze Bacon-Theorie würde mit einem Schlage feststehen, wenn
sich irgendwo eine verborgene oder versteckte Urkunde aufspüren ließe,
worin Bacon selbst berichtet hat: daß er der Dichter war, William
Shakespeare aber sein Werkzeug und ein Mensch von der Art, wie
unsere Baconianer ihn vorstellen. Und da Bacon, wie aus seiner Lehre
ersichtlich, sich mit der Kunst des Chiffrirens und Dechiffrirens
beschäftigt hat, so wird er diese Urkunde wohl chiffrirt und der
Nachwelt überlassen haben, den Schlüssel zu finden. Das große
Bacongeheimniß in Chiffern! Eine solche Urkunde dürfte man füglich
"die große Geheimschrift" nennen: great kryptogramm.
Aber wo sie finden? Am Ende hat sie Bacon in seinen eigenen Werken
versteckt und zwar in denjenigen, welche den Inhalt seines großen
Geheimnisses ausmachen, in seinen Shakespeare-Dramen, in deren

erster Gesammtausgabe, hauptsächlich in den beiden Theilen Heinrichs
IV. Nirgends steht hier der Name "Stratford", öfter dagegen der Name
"St. Alban", noch öfter der Name "Francis". "Franz! Franz!" "Gleich,
Herr, gleich!"--Wie Falstaff die Kaufleute plündert, schreit er: "Nieder
mit euch, ihr Speckfresser (_bacon-knaves_)!"Da haben wir schon
"Francis" und "Bacon", also "Francis Bacon"! Wie leicht sind die
Worte schütteln (_shake_) und Speer (_speare_) anzutreffen:
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