sein, daß die beiden
berühmtesten Männer aus dem Zeitalter der Elisabeth und Jakobs I.
einige Jahrzehnte in London zugleich gelebt haben und einander fremd
geblieben sind, obwohl es nicht zweifelhaft sein kann, daß jeder vom
andern gewußt hat.
Indessen wie weit auch die Charaktere und Schicksale, die Stellungen
und Laufbahnen beider Männer von einander entfernt waren, und wie
grundverschieden ihre Ansichten vom Werthe des Lebens und der Welt
sein mochten, so hat sich doch der Genius eines großen Zeitalters,
dessen mächtigste Söhne sie waren, in beiden wirksam erwiesen und
gewisse übereinstimmende Auffassungen vom Wesen und der Natur
des Menschen hervorgerufen.
Bacon verlangt eine Sittenlehre, die nicht auf abstracte Vorschriften,
sondern auf wirkliche Menschenkenntniß, auf das Studium
menschlicher Charaktere und Leidenschaften gegründet sein soll; die
Sittenlehrer sollen nicht Kalligraphen sein, wie die Schreiblehrer: er
fordert eine Naturgeschichte der Affecte, die man uns nach dem Leben
schildern möge, wie sie entstehen und wachsen, wie sie erregt und
gesteigert, wie sie gemäßigt und bemeistert werden; wie man sie fängt,
den Affect durch den Affect, wie auf der Jagd Thiere durch Thiere. Um
die menschlichen Charaktere und Leidenschaften zu studiren, verweist
Bacon die Sittenlehre auf die Geschichtschreiber und Dichter. Er hätte
statt aller einen einzigen nennen sollen, der in seinen dramatischen
Werken die mannichfaltigsten, gehaltvollsten und wahrsten
Menschenbilder geschaffen hat: seinen Landsmann und Zeitgenossen
William Shakespeare. Wie Bacon den Menschen von Seiten der
Sittenlehre studirt und erkannt wissen will, so hat ihn Shakespeare
dargestellt und gedichtet.
Wie man den Affect durch den Affect fängt, so wie auf der Jagd Thiere
durch Thiere! Ich meine in Shakespeares "Cäsar" den Decius Brutus zu
hören, wie er im Rathe der Verschworenen sich anheischig macht, den
Herrscher in den Senat zu locken:
"Ich übermeist're ihn. Er hört es gern, Das Einhorn lasse sich mit
Bäumen fangen, Der Löw' im Netz, der Elephant in Gruben, Der Bär
mit Spiegeln und der Mensch durch Schmeichler. Doch sag' ich ihm,
daß er die Schmeichler haßt, Bejaht er es, am meisten dann
geschmeichelt. Laßt mich gewähren, Denn ich verstehe, sein Gemüth
zu lenken, Und will ihn bringen auf das Capitol." [Fußnote: Mein Werk
"Francis Bacon und seine Nachfolger". (Leipzig, Brockhaus. 2. Aufl.
1875.) S. 283-292, 383 bis 384; vgl. _Bacon_: Ess. of friendship.
Works VI, p. 437 bis 443.]
Zu der Sittenlehre gehört auch die Pflichtenlehre, die uns vorschreibt,
was wir thun sollen. Hier vermißt Bacon die Lehre von den
entgegengesetzten Lastern, die uns zeigen möge, was die Menschen
wirklich thun, wie sie jene bösen Künste der Falschheit und Täuschung
ausüben, klug wie die Schlangen, aber keineswegs ohne Falsch wie die
Tauben. Diese bösen Künste gleichen dem gefährlichen Basilisken, bei
dem, wie die Fabel sagt, alles darauf ankomme, wer den ersten Blick
hat. Erkennen wir den Basilisken, bevor er uns anblickt, dann sind wir
gerettet; im andern Fall sind wir gebannt und verloren. Daher empfiehlt
Bacon, den Macchiavelli zu studiren, der in seinem Buche vom Fürsten
diese Künste der Falschheit und Täuschung unübertrefflich geschildert
habe. Genau so hat Shakespeare diese «_malae artes_» personificirt in
seinem "Richard III.":
"Ich will mehr Schiffer als die Nix ersäufen, Mehr Gaffer tödten als der
Basilisk, Ich will den Redner gut wie Nestor spielen, Verschmitzter
täuschen, als Ulyß gekonnt, Und Sinon gleich ein zweites Troja
nehmen. Ich leihe Farben dem Chamäleon, Verwandle mehr wie
Proteus mich Und nehme den mörderischen Machiavell in Lehr'."
[Fußnote: Mein Werk "Fr. Bacon &c." S. 389-390.]
Solche und eine Reihe ähnlicher Uebereinstimmungen zwischen Bacon
und Shakespeare habe ich stets mit hohem Interesse verfolgt, aber nie
etwas anderes daraus hergeleitet als ein Zeugniß jener
Ideenverwandtschaft, die zwischen den führenden Geistern einer
Weltepoche zu herrschen pflegt. Der größte Philosoph und der größte
Dichter des Elisabethanischen Zeitalters! Ich bin so oft bei dem
Studium des Einen an gleichartige Anschauungen des Andern erinnert
worden, daß ich lebhaft wünschte, es möchten sich von den
persönlichen Eindrücken, welche der Eine von dem Andern gehabt hat,
insbesondere Bacon von Shakespeare, einige sichere Spuren auffinden
lassen. Als daher die Bacon-Shakespeare-Controverse so viele Federn
zu beschäftigen anfing, habe ich zwar niemals gezweifelt, daß die
"Baconianer" einer in die Luft gebauten Hypothese nachtrachteten, aber
ich habe mit einem ihrer amerikanischen Gegner gehofft, daß diese
Untersuchungen über manche am Wege gelegenen Punkte ein
unerwartetes Licht verbreiten könnten: interessante «side-lights» und
«collateral information», wie John Weiß solche beiläufige Gewinne
genannt hat. Aber meine Hoffnungen sind weniger erfüllt worden als
die seinigen.
Die Baconianer sind von ihrem Dogma zu sehr besessen und verhalten
sich zu der Frage nicht als Kritiker und Forscher, sondern wie
Advokaten, die immer bestrebt sind, die Gegengründe, auch die
solidesten, wegzureden aber zu ignoriren, die Scheingründe dagegen,
auch die losesten, durch alle möglichen superlativen Verstärkungen
einzureden und zu verdichten; sie beweisen nicht, sondern plaidiren: sie
plaidiren pro Bacon contra Shakespeare und behandeln die ganze
Controverse als «plea».
Es ist nicht zufällig, daß unter den
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