der Fremde eben zuschaute, zog sich hierauf ein langes Haar aus dem
Kopfe, stach mit einer der feinsten Nadeln ein Loch dadurch, nahm das
eine Ende des Haares, bog es um und zog es durch die Öffnung zu einer
artigen Schleife oder, wie man's sonst nennt, Schlupf oder Letsch.
Das war so brotlos eben auch nicht. Denn das Mägdlein bot dieses
künstlich geschlungene Haar dem Fremden zum Andenken und bekam
dafür ein artiges Geschenk, und das wird mehr als einmal im Jahr
geschehen sein. Solch ein kleiner Nebenverdienst ist einem fleissigen
Kinde wohl zu gönnen.
Aber während ehrliche Eltern und Kinder aller Orten etwas Nützliches
arbeiten und ihr Brot mit Ehren verdienen und mit gutem Gewissen
essen, zog zu seiner Zeit ein Tagdieb durch die Welt, der sich in der
Kunst geübt hatte, in einer ziemlich grossen Entfernung durch ein
Nadelöhr kleine Linsen zu werfen. Das war eine brotlose Kunst. Doch
lief es auch nicht ganz leer ab. Denn als der Linsenschütz unter anderm
nach Rom kam, liess er sich auch vor dem Papst sehen, der sonst ein
grosser Freund von seltsamen Künsten war, hoffte ein hübsches Stück
Geld von ihm zu beikommen und machte schon ein paar
wunderfreundliche Augen, als der Schatzmeister des Heiligen Vaters
mit einem Säcklein auf ihn zuging, und bückte sich entsetzlich tief, als
ihm der Schatzmeister das ganze Säcklein anbot.
Allein was war darin? Ein halber Becher Linsen, die ihm der weise
Papst zur Belohnung und Aufmunterung seines Fleisses übermachen
liess, damit er sich in seiner Kunst noch ferner üben und immer
grössere Fortschritte darin machen könne.
Dankbarkeit
In der Seeschlacht von Trafalgar, während die Kugeln sausten und die
Mastbäume krachten, fand ein Matrose noch Zeit, zu kratzen, wo es ihn
biss, nämlich auf dem Kopf. Auf einmal streifte er mit
zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger bedächtig an einem
Haare herab und liess ein armes Tierlein das er zum Gefangenen
gemacht hatte, auf den Boden fallen. Aber indem er sich niederbückte,
um ihm den Garaus zu machen, flog eine feindliche Kanonenkugel ihm
über den Rücken weg, paff, in das benachbarte Schiff. Da ergriff den
Matrosen ein dankbares Gefühl, und überzeugt, dass er von dieser
Kugel wäre zerschmettert worden, wenn er sich nicht nach dem
Tierlein gebücket hätte, hob er es schonend von dem Boden auf und
setzte es wieder auf den Kopf. "Weil du mir das Leben gerettet hast",
sagte er; "aber lass dich nicht zum zweiten Mal attrapieren, denn ich
kenne dich nimmer."
Das Bettlerkind
Zu einem betagten Herrn, der zwar wohltätig, aber fast wunderlich war,
kommt ein freundliches Bettelkind und bittet ihn um ein Almosen.
"Wir haben schon seit dem Samstag kein Weissbrot mehr, und das
schwarze ist so teuer, weil die Laibe so gross sind." Der Herr, der auf
Ordnung hielt und das Betteln nicht wohl leiden konnte, sagte: "Weil
du sonst so bescheiden bist, ich habe dich noch nie gesehen, und heute
zum ersten Mal zu mir kommst, so will ich dir zwar ein
Sechskreuzerlein schenken. Aber unterstehe dich nicht, dass du dich
wieder bei mir blicken lassest, sonst geht's mit einem Groschen ab."
Also holte das Kind in Zukunft den Groschen fast über jeden andern
Tag. Als er aber des Überlaufens müde war, sagte er: "Jetzt bin ich's
müde. Wenn du dich noch einmal unterstehst, so setze ich dich auf
einen Kreuzer herab." Also kam das Kind in Zukunft alle Morgen und
holte den Kreuzer. Die Köchin riet dem Herrn, er solle dem Kind gar
nie mehr etwas geben, so wird's schon wegbleiben. "So?" sagte er, "das
ist mir ein sauberer Rat. Seht Ihr nicht, je weniger man ihm gibt, desto
öfter kommt's?"
Das Blendwerk
Manche Leute, wenn sie etwas sehen, das sie nicht begreifen, noch
weniger nachmachen können, so sagen sie kurz und gut, das ist ein
Blendwerk. Nämlich, dass man etwas zu sehen glaube, wo nichts ist,
oder dass man die Sache anders sehe, als sie wirklich ist. Dass es aber
viel Blendwerk gibt, das unterliegt keinem Zweifel. Z. B. wenn jemand
im Mondschein auf der Strasse ist und sieht an einer Mauer oder im
Nebel seinen Schatten aufrecht, dass er meint, es sei ein ungebetener
Kamerad, der mit ihm geht, einer von der schwarzen Legion.
Item, wenn jemand einen falschen Freund für einen guten Freund hält
und trotz aller Warnung dem Spitzbuben traut, bis er zuletzt um Hab
und Gut betrogen ist und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.
Das ist ein grosses Blendwerk. Item, wenn jemand meint, etwas sei ein
Blendwerk, und ist doch keins.
In einem namhaften Ort am Rheinstrom kam ein Gaukler an, ein
Tausendkünstler, und bekam die Erlaubnis, auf einer alten Heubühne,
die schon lange nicht mehr war gebraucht worden, seine Künste zu
zeigen, und zwar gleich zum letzten Mal. Fast die ganze Gemeinde
versammelte sich, und es war der Mühe wert.
Dem Vernehmen nach--der
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