Roemische Geschichte, Band 8 | Page 9

Theodor Mommsen
Zweifel stroemten bestaendig zahlreiche dieser Raubgesellen ueber die Berge herueber, um das reiche Nachbarland zu brandschatzen. Auch nach Gallien hin war noch in gleicher Weise zu tun; die Voelkerschaften im oberen Rhonethal (Wallis und Waadt) waren zwar von Caesar unterworfen worden, aber sind auch unter denen genannt, die den Feldherren seines Sohnes zu schaffen machten. Andererseits klagten die friedlichen gallischen Grenzdistrikte ueber die stetigen Einfaelle der Raeter. Eine Geschichtserzaehlung leiden und fordern die zahlreichen Expeditionen nicht, welche Augustus dieser Missstaende halber veranstaltet hat; in den Triumphalfasten sind sie nicht verzeichnet und gehoeren auch nicht hinein, aber sie gaben Italien zum ersten Mal Befriedung des Nordens. Erwaehnt moegen werden die Niederwerfung der oben erwaehnten Camunner im Jahre 738 (16) durch den Statthalter von Illyricum und die gewisser ligurischer Voelkerschaften in der Gegend von Nizza im Jahre 740 (14), weil sie zeigen, wie noch um die Mitte der augustischen Zeit diese unbotmaessigen Staemme unmittelbar auf Italien drueckten. Wenn der Kaiser spaeterhin in dem Gesamtbericht ueber seine Reichsverwaltung erklaerte, dass gegen keine dieser kleinen Voelkerschaften von ihm zu Unrecht Gewalt gebraucht worden sei, so wird dies dahin zu verstehen sein, dass ihnen Gebietsabtretungen und Sitzwechsel angesonnen wurden und sie sich dagegen zur Wehr setzten; nur der unter Koenig Cottius von Segusio (Susa) vereinigte kleine Gauverband fuegte sich ohne Kampf in die neue Ordnung. Der Schauplatz dieser Kaempfe waren die suedlichen Abhaenge und die Taeler der Alpen. Es folgte die Festsetzung auf dem Nordabhang der Gebirge und in dem noerdlichen Vorlande im Jahre 739 (15). Die beiden dem kaiserlichen Hause zugezaehlten Stiefsoehne Augusts, Tiberius, der spaetere Kaiser, und sein Bruder Drusus, wurden damit in die ihnen bestimmte Feldherrnlaufbahn eingefuehrt - es waren sehr sichere und sehr dankbare Lorbeeren, die ihnen in Aussicht gestellt wurden. Von Italien aus das Tal der Etsch hinauf drang Drusus in die raetischen Berge ein und erfocht hier einen ersten Sieg; fuer das weitere Vordringen reichte ihm der Bruder, damals Statthalter Galliens, vom helvetischen Gebiet aus die Hand; auf dem Bodensee selbst schlugen die roemischen Trieren die Boote der Vindeliker; an dem Kaisertag, dem 1. August 739 (15), wurde in der Umgegend der Donauquellen die letzte Schlacht geschlagen, durch die Raetien und das Vindelikerland, das heisst Tirol, die Ostschweiz und Bayern, fortan Bestandteile des Roemischen Reiches wurden. Kaiser Augustus selbst war nach Gallien gegangen, um den Krieg und die Einrichtung der neuen Provinz zu ueberwachen. Da wo die Alpen am Golf von Genua endigen, auf der Hoehe oberhalb Monaco, wurde einige Jahre darauf von dem dankbaren Italien dem Kaiser Augustus ein weit in das Tyrrhenische Meer hinausschauendes, noch heute nicht ganz verschwundenes Denkmal dafuer errichtet, dass unter seinem Regiment die Alpenvoelker alle vom oberen zum unteren Meer - ihrer sechsundvierzig zaehlt die Inschrift auf - in die Gewalt des roemischen Volkes gebracht worden waren. Es war nicht mehr als die einfache Wahrheit, und dieser Krieg das, was der Krieg sein soll, der Schirmer und der Buerge des Friedens. Schwieriger wohl als die eigentliche Kriegsarbeit war die Organisation des neuen Gebietes; insbesondere auch deshalb, weil die inneren politischen Verhaeltnisse hier zum Teil recht stoerend eingriffen. Da nach der Lage der Dinge das militaerische Schwergewicht nicht in Italien liegen durfte, so musste die Regierung darauf bedacht sein, die grossen Militaerkommandos aus der unmittelbaren Naehe Italiens moeglichst zu entfernen; ja es hat wohl bei der Besetzung Raetiens selbst das Bestreben mitgewirkt, das Kommando, welches wahrscheinlich bis dahin in Oberitalien selbst nicht hatte entbehrt werden koennen, definitiv von dort wegzulegen, wie es dann auch zur Ausfuehrung kam. Was man zunaechst erwarten sollte, dass fuer die in dem neugewonnenen Gebiet unentbehrlichen militaerischen Aufstellungen ein grosser Mittelpunkt am Nordabhang der Alpen geschaffen worden waere, davon geschah das gerade Gegenteil. Es wurde zwischen Italien einer- und den grossen Rhein- und Donaukommandos andererseits ein Guertel kleinerer Statthalterschaften gezogen, die nicht bloss alle vom Kaiser, sondern auch durchaus mit dem Senat nicht angehoerigen Maennern besetzt wurden. Italien und die suedgallische Provinz wurden geschieden durch die drei kleinen Militaerdistrikte der Seealpen (Departement der Seealpen und Provinz Cuneo), der Kottischen mit der Hauptstadt Segusio (Susa) und wahrscheinlich der Graischen (Ostsavoyen), unter denen der zweite, von dem schon genannten Gaufuersten Cottius und seinen Nachkommen eine Zeitlang in den Formen der Klientel verwaltete ^4 am meisten bedeutete, die aber alle eine gewisse Militaergewalt besassen und deren naechste Bestimmung war, in dem betreffenden Gebiet und vor allem auf den wichtigen, dasselbe durchschneidenden Reichsstrassen die oeffentliche Sicherheit zu erhalten. Das obere Rhonetal dagegen, also das Wallis, und das neu eroberte Raetien wurden einem nicht im Rang, aber wohl an Macht hoeher stehenden Befehlhaber untergeben; ein relativ ansehnliches Korps war hier nun einmal unumgaenglich erforderlich. Indes wurde, um dasselbe moeglichst verringern zu koennen, Raetien durch Entfernung seiner Bewohner im grossen Massstab entvoelkert. Den Ring schloss die aehnlich organisierte Provinz Noricum, den groessten Teil des heutigen deutschen
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