Roemische Geschichte, Band 3 | Page 4

Theodor Mommsen
Kypros und
Aegypten, in Griechenland und Sizilien, in Afrika und Spanien, ja
sogar auf dem Atlantischen Meer und der Nordsee. Ihr Handelsgebiet
reicht von Sierra Leone und Cornwall im Westen bis oestlich zur
malabarischen Kueste; durch ihre Haende gehen das Gold und die
Perlen des Ostens, der tyrische Purpur, die Sklaven, das Elfenbein, die
Loewen- und Pardelfelle aus dem inneren Afrika, der arabische
Weihrauch, das Linnen Aegyptens, Griechenlands Tongeschirr und
edle Weine, das kyprische Kupfer, das spanische Silber, das englische
Zinn, das Eisen von Elba. Jedem Volke bringen die phoenikischen
Schiffer, was es brauchen kann oder doch kaufen mag, und ueberall
kommen sie herum, um immer wieder zurueckzukehren zu der engen
Heimat, an der ihr Herz haengt. Die Phoeniker haben wohl ein Recht,
in der Geschichte genannt zu werden neben der hellenischen und der
latinischen Nation; aber auch an ihnen und vielleicht an ihnen am
meisten bewaehrt es sich, dass das Altertum die Kraefte der Voelker
einseitig entwickelte. Die grossartigen und dauernden Schoepfungen,
welche auf dem geistigen Gebiete innerhalb des aramaeischen Stammes
entstanden sind, gehoeren nicht zunaechst den Phoenikern an; wenn
Glauben und Wissen in gewissem Sinn den aramaeischen Nationen vor
allen anderen eigen und den Indogermanen erst aus dem Osten
zugekommen sind, so hat doch weder die phoenikische Religion noch
die phoenikische Wissenschaft und Kunst, soviel wir sehen, jemals
unter den aramaeischen einen selbstaendigen Rang eingenommen. Die
religioesen Vorstellungen der Phoeniker sind formlos und unschoen,
und ihr Gottesdienst schien Luesternheit und Grausamkeit mehr zu
naehren als zu baendigen bestimmt; von einer besonderen Einwirkung
phoenikischer Religion auf andere Voelker wird wenigstens in der
geschichtlich klaren Zeit nichts wahrgenommen. Ebensowenig
begegnet eine auch nur der italischen, geschweige denn derjenigen der
Mutterlaender der Kunst vergleichbare phoenikische Tektonik oder
Plastik. Die aelteste Heimat der wissenschaftlichen Beobachtung und

ihrer praktischen Verwertung ist Babylon oder doch das Euphratland
gewesen: hier wahrscheinlich folgte man zuerst dem Lauf der Sterne;
hier schied und schrieb man zuerst die Laute der Sprache; hier begann
der Mensch ueber Zeit und Raum und ueber die in der Natur wirkenden
Kraefte zu denken; hierhin fuehren die aeltesten Spuren der Astronomie
und Chronologie, des Alphabets, der Masse und Gewichte. Die
Phoeniker haben wohl von den kunstreichen und hoch entwickelten
babylonischen Gewerken fuer ihre Industrie, von der Sternbeobachtung
fuer ihre Schiffahrt, von der Lautschrift und der Ordnung der Masse
fuer ihren Handel Vorteil gezogen und manchen wichtigen Keim der
Zivilisation mit ihren Waren vertrieben; aber dass das Alphabet oder
irgendein anderes jener genialen Erzeugnisse des Menschengeistes
ihnen eigentuemlich angehoere, laesst sich nicht erweisen, und was
durch sie von religioesen und wissenschaftlichen Gedanken den
Hellenen zukam, das haben sie mehr wie der Vogel das Samenkorn als
wie der Ackersmann die Saat ausgestreut. Die Kraft die
bildungsfaehigen Voelker, mit denen sie sich beruehrten, zu zivilisieren
und sich zu assimilieren, wie sie die Hellenen und selbst die Italiker
besitzen, fehlte den Phoenikern gaenzlich. Im Eroberungsgebiet der
Roemer sind vor der romanischen Zunge die iberischen und die
keltischen Sprachen verschollen; die Berber Afrikas reden heute noch
dieselbe Sprache wie zu den Zeiten der Hannos und der Barkiden. Aber
vor allem mangelt den Phoenikern, wie allen aramaeischen Nationen
im Gegensatz zu den indogermanischen, der staatenbildende Trieb, der
geniale Gedanke der sich selber regierenden Freiheit. Waehrend der
hoechsten Bluete von Sidon und Tyros ist das phoenikische Land der
ewige Zankapfel der am Euphrat und am Nil herrschenden Maechte
und bald den Assyrern, bald den Aegyptern untertan. Mit der halben
Macht haetten hellenische Staedte sich unabhaengig gemacht; aber die
vorsichtigen sidonischen Maenner, berechnend, dass die Sperrung der
Karawanenstrassen nach dem Osten oder der aegyptischen Haefen
ihnen weit hoeher zu stehen komme als der schwerste Tribut, zahlten
lieber puenktlich ihre Steuern, wie es fiel nach Ninive oder nach
Memphis, und fochten sogar, wenn es nicht anders sein konnte, mit
ihren Schiffen die Schlachten der Koenige mit. Und wie die Phoeniker
daheim den Druck der Herren gelassen ertrugen, waren sie auch
draussen keineswegs geneigt, die friedlichen Bahnen der

kaufmaennischen mit der erobernden Politik zu vertauschen. Ihre
Niederlassungen sind Faktoreien; es liegt ihnen mehr daran, den
Eingeborenen Waren abzunehmen und zuzubringen, als weite Gebiete
in fernen Laendern zu erwerben und daselbst die schwere und langsame
Arbeit der Kolonisierung durchzufuehren. Selbst mit ihren
Konkurrenten vermeiden sie den Krieg; aus Aegypten, Griechenland,
Italien, dem oestlichen Sizilien lassen sie fast ohne Widerstand sich
verdraengen und in den grossen Seeschlachten, die in frueher Zeit um
die Herrschaft im westlichen Mittelmeer geliefert worden sind, bei
Alalia (217 537) und Kyme (280 474), sind es die Etrusker, nicht die
Phoeniker, die die Schwere des Kampfes gegen die Griechen tragen. Ist
die Konkurrenz einmal nicht zu vermeiden, so gleicht man sich aus, so
gut es gehen will; es ist nie von den Phoenikern ein Versuch gemacht
worden, Caere oder Massalia zu erobern. Noch weniger natuerlich sind
die Phoeniker zum Angriffskrieg geneigt. Das einzige
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