Roemische Geschichte, Band 2 | Page 4

Theodor Mommsen
dem Besitz gedraengten oder in
demselben gefaehrdeten Besitzer. Die rechtlichen und politischen
Verhaeltnisse Roms veranlassten die Entstehung zahlreicher
Bauernwirtschaften teils kleiner Eigentuemer, die von der Gnade des
Kapital-, teils kleiner Zeitpaechter, die von der Gnade des Grundherrn
abhingen, und beraubten vielfach einzelne wie ganze Gemeinden des
Grundbesitzes, ohne die persoenliche Freiheit anzugreifen. Dadurch
ward das ackerbauende Proletariat schon so frueh maechtig, dass es
wesentlich in die Schicksale der Gemeinde eingreifen konnte. Das
staedtische Proletariat gewann erst in weit spaeterer Zeit politische
Bedeutung. In diesen Gegensaetzen bewegte sich die innere Geschichte
Roms und vermutlich nicht minder die uns gaenzlich verlorene der
uebrigen italischen Gemeinden. Die politische Bewegung innerhalb der
vollberechtigten Buergerschaft, der Krieg der Ausgeschlossenen und
der Ausschliessenden, die sozialen Konflikte der Besitzenden und der
Besitzlosen, so mannigfaltig sie sich durchkreuzen und
ineinanderschlingen und oft seltsame Allianzen herbeifuehren, sind
dennoch wesentlich und von Grund aus verschieden. Da die
Servianische Reform, welche den Insassen in militaerischer Hinsicht
dem Buerger gleichstellte, mehr aus administrativen Ruecksichten als
aus einer politischen Parteitendenz hervorgegangen zu sein scheint, so
darf als der erste dieser Gegensaetze, der zu inneren Krisen und
Verfassungsaenderungen fuehrte, derjenige betrachtet werden, der auf
die Beschraenkung der Magistratur hinarbeitet. Der frueheste Erfolg
dieser aeltesten roemischen Opposition besteht in der Abschaffung der
Lebenslaenglichkeit der Gemeindevorsteherschaft, das heisst in der
Abschaffung des Koenigtums. Wie notwendig diese in der natuerlichen
Entwicklung der Dinge lag, dafuer ist der schlagendste Beweis, dass
dieselbe Verfassungsaenderung in dem ganzen Kreise der
italisch-griechischen Welt in analoger Weise vor sich gegangen ist.

Nicht bloss in Rom, sondern gerade ebenso bei den uebrigen Latinern
sowie bei den Sabellern, Etruskern und Apulern, ueberhaupt in
saemtlichen italischen Gemeinden finden wir, wie in den griechischen,
in spaeterer Zeit die alten lebenslaenglichen durch Jahresherrscher
ersetzt. Fuer den lucanischen Gau ist es bezeugt, dass er im Frieden
sich demokratisch regierte und nur fuer den Krieg die Magistrate einen
Koenig, das heisst einen dem roemischen Diktator aehnlichen Beamten
bestellten; die sabellischen Stadtgemeinden, zum Beispiel die von
Capua und Pompeii, gehorchten gleichfalls spaeterhin einem jaehrlich
wechselnden "Gemeindebesorger" (medix tuticus), und aehnliche
Institutionen moegen wir auch bei den uebrigen Volks- und
Stadtgemeinden Italiens voraussetzen. Es bedarf hiernach keiner
Erklaerung, aus welchen Gruenden in Rom die Konsuln an die Stelle
der Koenige getreten sind; der Organismus der alten griechischen und
italischen Politie entwickelt vielmehr die Beschraenkung der
lebenslaenglichen Gemeindevorstandschaft auf eine kuerzere,
meistenteils jaehrige Frist mit einer gewissen Naturnotwendigkeit aus
sich selber. So einfach indes die Ursache dieser Veraenderung ist, so
mannigfaltig konnten die Anlaesse sein; man mochte nach dem Tode
des lebenslaenglichen Herrn beschliessen keinen solchen wieder zu
erwaehlen, wie nach Romulus' Tode der roemische Senat versucht
haben soll; oder der Herr mochte freiwillig abdanken, was angeblich
Koenig Servius Tullius beabsichtigt hat; oder das Volk mochte gegen
einen tyrannischen Regenten aufstehen und ihn vertreiben, wie dies das
Ende des roemischen Koenigtums war. Denn mag die Geschichte der
Vertreibung des letzten Tarquinius, "des Uebermuetigen", auch noch so
sehr in Anekdoten ein- und zur Novelle ausgesponnen sein, so ist doch
an den Grundzuegen nicht zu zweifeln. Dass der Koenig es unterliess
den Senat zu befragen und zu ergaenzen, dass er Todesurteile und
Konfiskationen ohne Zuziehung von Ratmaennern aussprach, dass er in
seinen Speichern ungeheure Kornvorraete aufhaeufte und den Buergern
Kriegsarbeit und Handdienste ueber die Gebuehr ansann, bezeichnet
die Ueberlieferung in glaublicher Weise als die Ursachen der
Empoerung; von der Erbitterung des Volkes zeugt das foermliche
Geloebnis, das dasselbe Mann fuer Mann fuer sich und seine
Nachkommen ablegte, fortan keinen Koenig mehr zu dulden, und der
blinde Hass, der seitdem an den Namen des Koenigs sich anknuepfte,

vor allem aber die Verfuegung, dass der "Opferkoenig", den man
kreieren zu muessen glaubte, damit nicht die Goetter den gewohnten
Vermittler vermissten, kein weiteres Amt solle bekleiden koennen und
also dieser zwar der erste, aber auch der ohnmaechtigste Mann im
roemischen Gemeindewesen ward. Mit dem letzten Koenig wurde sein
ganzes Geschlecht verbannt - ein Beweis, welche Geschlossenheit
damals noch die gentilizischen Verbindungen hatten. Die Tarquinier
siedelten darauf ueber nach Caere, vielleicht ihrer alten Heimat, wo ihr
Geschlechtsgrab kuerzlich aufgedeckt worden ist. An die Stelle aber
des einen lebenslaenglichen traten zwei jaehrige Herrscher an die
Spitze der roemischen Gemeinde. Dies ist alles, was historisch ueber
dies wichtige Ereignis als sicher angesehen werden kann ^1. Dass in
einer grossen weitherrschenden Gemeinde, wie die roemische war, die
koenigliche Gewalt, namentlich wenn sie durch mehrere Generationen
bei demselben Geschlechte gewesen, widerstandsfaehiger und der
Kampf also lebhafter war als in den kleineren Staaten, ist begreiflich;
aber auf eine Einmischung auswaertiger Staaten in denselben deutet
keine sichere Spur. Der grosse Krieg mit Etrurien, der uebrigens wohl
nur durch chronologische Verwirrung in den roemischen Jahrbuechern
so nahe an die Vertreibung der Tarquinier gerueckt ist, kann nicht als
eine Intervention Etruriens zu Gunsten eines in Rom beeintraechtigten
Landsmannes angesehen werden, aus dem sehr zureichenden Grunde,
dass die Etrusker
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