Roemische Geschichte, Band 1 | Page 9

Theodor Mommsen
diese nur in aeusserst lueckenhafter und

schwankender Weise bekannt; von den uebrigen Dialekten sind die
einen, wie der volskische und der marsische, in zu geringen
Truemmern auf uns gekommen, um sie in ihrer Individualitaet zu
erfassen oder auch nur die Mundarten selbst mit Sicherheit und
Genauigkeit zu klassifizieren, waehrend andere, wie der sabinische, bis
auf geringe, als dialektische Eigentuemlichkeiten im provinzialen
Latein erhaltene Spuren voellig untergegangen sind. Indes laesst die
Kombination der sprachlichen und der historischen Tatsachen daran
keinen Zweifel, dass diese saemtlichen Dialekte dem
umbrisch-samnitischen Zweig des grossen italischen Stammes
angehoert haben, und dass dieser, obwohl dem lateinischen Stamm weit
naeher als dem griechischen verwandt, doch auch wieder von ihm aufs
bestimmteste sich unterscheidet. Im Fuerwort und sonst haeufig sagte
der Samnite und der Umbrer p, wo der Roemer q sprach - so pis fuer
quis; ganz wie sich auch sonst nahverwandte Sprachen scheiden, zum
Beispiel dem Keltischen in der Bretagne und Wales p, dem Gaelischen
und Irischen k eigen ist. In den Vokalen erscheinen die Diphthonge im
Lateinischen und ueberhaupt den noerdlichen Dialekten sehr zerstoert,
dagegen in den suedlichen italischen Dialekten sie wenig gelitten haben;
womit verwandt ist, dass in der Zusammensetzung der Roemer den
sonst so streng bewahrten Grundvokal abschwaecht, was nicht
geschieht in der verwandten Sprachengruppe. Der Genetiv der Woerter
auf a ist in dieser wie bei den Griechen as, bei den Roemern in der
ausgebildeten Sprache ae; der der Woerter auf us im Samnitischen eis,
im Umbrischen es, bei den Roemern ei; der Lokativ tritt bei diesen im
Sprachbewusstsein mehr und mehr zurueck, waehrend er in den andern
italischen Dialekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf
bus ist nur im Lateinischen vorhanden. Der umbrisch-samnitische
Infinitiv auf um ist den Roemern fremd, waehrend das
oskisch-umbrische, von der Wurzel es gebildete Futur nach
griechischer Art (her-est wie leg-s/o/) bei den Roemern fast, vielleicht
ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des einfachen
Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo (ama-bo). In vielen
dieser Faelle, zum Beispiel in den Kasusformen, sind die Unterschiede
indes nur vorhanden fuer die beiderseits ausgebildeten Sprachen,
waehrend die Anfaenge zusammenfallen. Wenn also die italische
Sprache neben der griechischen selbstaendig steht, so verhaelt sich

innerhalb jener die lateinische Mundart zu der umbrisch- samnitischen
etwa wie die ionische zur dorischen, waehrend sich die
Verschiedenheiten des Oskischen und des Umbrischen und der
verwandten Dialekte etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus
in Sizilien und in Sparta. Jede dieser Spracherscheinungen ist Ergebnis
und Zeugnis eines historischen Ereignisses. Es laesst sich daraus mit
vollkommener Sicherheit erschliessen, dass aus dem
gemeinschaftlichen Mutterschoss der Voelker und der Sprachen ein
Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der Italiker
gemeinschaftlich in sich schloss; dass aus diesem alsdann die Italiker
sich abzweigten und diese wieder in den westlichen und oestlichen
Stamm, der oestliche noch spaeter in Umbrer und Osker auseinander
gingen. Wo und wann diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die
Sprache nicht lehren, und kaum darf der verwegene Gedanke es
versuchen, diesen Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die
fruehesten unzweifelhaft lange vor derjenigen Einwanderung
stattfanden, welche die Stammvaeter der Italiker ueber die Apenninen
fuehrte. Dagegen kann die Vergleichung der Sprachen, richtig und
vorsichtig behandelt, von demjenigen Kulturgrade, auf dem das Volk
sich befand, als jene Trennungen eintraten, ein annaeherndes Bild und
damit uns die Anfaenge der Geschichte gewaehren, welche nichts ist
als die Entwicklung der Zivilisation. Denn es ist namentlich in der
Bildungsepoche die Sprache das treue Bild und Organ der erreichten
Kulturstufe; die grossen technischen und sittlichen Revolutionen sind
darin wie in einem Archiv aufbewahrt, aus dessen Akten die Zukunft
nicht versaeumen wird, fuer jene Zeiten zu schoepfen, aus welchen alle
unmittelbare Ueberlieferung verstummt ist. Waehrend die jetzt
getrennten indogermanischen Voelker einen gleichsprachigen Stamm
bildeten, erreichten sie einen gewissen Kulturgrad und einen diesem
angemessenen Wortschatz, den als gemeinsame Ausstattung in
konventionell festgestelltem Gebrauch alle Einzelvoelker uebernahmen,
um auf der gegebenen Grundlage selbstaendig weiter zu bauen. Wir
finden in diesem Wortschatz nicht bloss die einfachsten Bezeichnungen
des Seins, der Taetigkeiten, der Wahrnehmungen wie sum, do, pater,
das heisst den urspruenglichen Widerhall des Eindrucks, den die
Aussenwelt auf die Brust des Menschen macht, sondern auch eine
Anzahl Kulturwoerter nicht bloss ihren Wurzeln nach, sondern in einer

gewohnheitsmaessig ausgepraegten Form, welche Gemeingut des
indogermanischen Stammes und weder aus gleichmaessiger Entfaltung
noch aus spaeterer Entlehnung erklaerbar sind. So besitzen wir
Zeugnisse fuer die Entwicklung des Hirtenlebens in jener fernen
Epoche in den unabaenderlich fixierten Namen der zahmen Tiere:
sanskritisch gaus ist lateinisch bos, griechisch bo?s; sanskritisch avis ist
lateinisch ovis, griechisch ois; sanskritisch a‡vas, lateinisch equus,
griechisch ippos; sanskritisch hansas, lateinisch anser, griechisch ch/e/n;
sanskritisch atis, griechisch n/e/ssa, lateinisch anas; ebenso sind pecus,
sus, porcus, taurus, canis sanskritische Woerter. Also schon in dieser
fernsten Epoche hatte der Stamm, auf dem von den Tagen Homers bis
auf unsere Zeit die geistige Entwicklung der
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