Robur der Sieger | Page 3

Jules Verne

dem Rigi, im Gäbris, in den Beobachtungsstationen des St. Gotthard, St.
Bernhard, des Julier, des Simplon, in denen von Zürich und des
Sonnblick in den Hohen Tauern, befleißigte man sich einer ganz
besonderen Zurückhaltung gegenüber einer Thatsache, die bisher
Niemand zu bekräftigen vermocht hatte -- was gewiß recht vernünftig
zu nennen ist.
In Italien dagegen, auf den meteorologischen Stationen des Vesuvs und
des Aetna, welch' letztere sich in der alten Casa Inghlese befindet, wie
auf dem Monte Cavo, zögerten die Beobachter nicht im geringsten, die
Wirklichkeit jener Erscheinung anzuerkennen, und das auf Grund des
Umstandes, daß sie dieselbe einmal am Tage in Form eines kleinen
Dampfwölkchens und einmal in der Nacht in Gestalt einer
Sternschnuppe hatten wahrnehmen können. Ueber die eigentliche Natur
derselben wußten sie freilich ebenfalls nichts.
In der That begann dieses Geheimnis allmählich die Vertreter der
Wissenschaft zu ermüden, erregte dagegen und erschreckte desto mehr
die Einfältigen und Unwissenden, welche, Dank einem hochweisen

Naturgesetze, von jeher in dieser Welt die ungeheure Mehrzahl gebildet
haben, noch bilden und in aller Zukunft bilden werden. Die
Astronomen und Meteorologen hatten also schon darauf verzichtet, sich
mit der Sache zu beschäftigen, als in der Nacht vom 26. zum 27. auf
der Sternwarte zu Cantokeino in Finnland, in Norwegen, in der Nacht
vom 28. zum 29. auf der des Isfjord und auf Spitzbergen, die Norweger
auf einer und die Schweden auf der anderen Seite in der Anschauung
übereingestimmt hatten, daß inmitten einer Art Nordlichtscheines etwas
wie ein gewaltiger Vogel oder ein Luftungeheuer sichtbar gewesen sei.
War es auch nicht gelungen, dessen Structur genauer zu bestimmen, so
unterlag es doch keinem Zweifel, daß derselbe kleine Körper
ausgeworfen habe, welche gleich Bomben mit einem Knalle
zersprangen.
In Europa neigte man wohl dazu, die Beobachtungen der Stationen von
Finnmarken und Spitzbergen nicht anzuzweifeln. Ganz besonders
merkwürdig erschien freilich, daß die Schweden und die Norweger
doch einmal über einen Punkt einig zu sein schienen.
Man lachte und spottete über die angebliche Entdeckung auf allen
Sternwarten Südamerikas, in Brasilien und Peru, ebenso wie in La Plata,
auf denen von Australien, in Sidney, Adelaide, wie in Melbourne, und
das australische Lachen ist bekanntlich sehr ansteckend.
Nur ein einziger Vorsteher einer meteorologischen Station verhielt sich
zustimmend bei dieser Frage, trotz der Spötteleien, welche seine
Erklärung derselben hervorrufen mochte. Das war ein Chinese, der
Director der Sternwarte zu Zi-Ka-Wey, die sich inmitten einer
ausgedehnten Ebene, mindestens zehn Lieues vom Meere, erhebt und
welche bei ungemeiner Klarheit der Luft ein grenzenlos weiter
Horizont umschließt.
"Es könnte ja sein, sagte er, daß der Gegenstand, um den es sich
handelt, ein besonders construirter Apparat, eine fliegende Maschine
wäre."
Welcher Scherz!

Waren die vielfachen Widersprüche nun schon in der Alten Welt sehr
lebhaft, so begreift man leicht, wie sie sich in jenem Theile der Neuen
Welt gestalten mußten, von dem die Vereinigten Staaten das weitaus
größte Gebiet einnehmen.
Ein Yankee liebt bekanntlich keine Umwege -- er wählt gewöhnlich
den, der am schnellsten zum Ziele führt. So zögerten auch die
amerikanischen Bundesstaaten nicht im mindesten, ihre Ansichten
gegenseitig auszusprechen. Wenn sie sich dabei nicht gleich die
Objective ihrer Fernrohre an den Kopf warfen, so kam das nur daher,
daß sie dieselben jetzt, wo sie gerade am meisten gebraucht wurden,
erst hätten wieder ersetzen müssen.
In dieser so viel Staub aufwirbelnden Frage standen die Sternwarten
von Washington im District Columbia und die von Cambridge im
Staate Duna denen des Darmouth-Collegs in Connecticut und von
Ann-Arbor in Michigan feindlich gegenüber. Ihr Streit betraf übrigens
nicht die Natur des beobachteten Körpers, sondern die genaue Zeit der
Beobachtung, denn Alle behaupteten, ihn in derselben Nacht, zu
derselben Stunde, zur gleichen Minute und Secunde wahrgenommen zu
haben, obwohl die Flugbahn des geheimnißvollen Wanderers der Lüfte
nur in mäßiger Höhe über dem Horizont liegen sollte. Von Connecticut
bis Michigan, von Duna nach Columbia ist aber die Entfernung eine so
große, daß eine doppelte Beobachtung zu ein und demselben Zeitpunkt
als unmöglich angesehen werden konnte.
Dudley in Albany, Staat New-York, und West-Point, die
Militärakademie, gaben allen ihren Collegen Unrecht in einer Zuschrift,
welche die gerade Aufsteigung und die Declination des bewußten
Körpers bestimmte.
Später stellte sich jedoch heraus, daß diese Beobachter einem Irrthume
unterlegen waren und daß der betreffende Körper nur eine Feuerkugel
gewesen war, welche durch die mittleren Luftschichten hinblitzte. Um
diese Feuerkugel handelte es sich aber offenbar nicht. Wie könnte auch
eine solche Feuerkugel eine Trompete geblasen haben?
Was nun die erwähnte Trompete anging, versuchte man vergeblich

deren schmetternden Ton als eine einfache Gehörstäuschung
hinzustellen. Jedenfalls hatten sich bei dieser Gelegenheit die Ohren
der Leute ebenso wenig getäuscht, wie deren Augen. Unzählige
Beobachter hatten vielmehr entschieden etwas gesehen und gleichzeitig
gehört. In der sehr dunklen Nacht -- vom 12. zum 13. Mai -- war es den
Beobachtern des Yale-Collegs an der Hochschule von Sheffield sogar
gelungen, einige Tacte eines musikalischen Satzes in A-dur und
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 80
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.