Pole Poppenspaeler | Page 3

Theodor W. Storm

gehen, war das hergebrachte Quartier aller fahrenden Musikanten,
Seiltänzer oder Tierbändiger, welche in unserer Stadt ihre Kunst zum
besten gaben.
Und richtig, als ich am andern Morgen oben in meiner Kammer vor
dem Fenster stand und meinen Schulsack schnürte, wurde drüben eine
der Luken aufgestoßen; der kleine Mann mit den schwarzen
Haarspießen steckte seinen Kopf ins Freie und dehnte sich mit beiden
Armen in die frische Luft hinaus; dann wandte er den Kopf hinter sich
nach dem dunkeln Raum zurück, und ich hörte ihn "Lisei! Lisei!"
rufen.--Da drängte sich unter seinem Arm ein rosiges Gesichtlein vor,
um das wie eine Mähne das schwarze Haar herabfiel. Der Vater wies
mit dem Finger nach mir herüber, lachte und zupfte sie ein paarmal an
ihren seidenen Strähnen. Was er zu ihr sprach, habe ich nicht verstehen
können; aber es mag wohl ungefähr gelautet haben. "Schau dir ihn an,
Lisei! Kennst ihn noch, den Bubn von gestern?--Der arme Narr, da muß
er nun gleich mit dem Ranzen in die Schule traben!--Was du für ein
glückliches Diendl bist, die du allweg nur mit unserem Braunen landab,
landauf zu fahren brauchst!"--Wenigstens sah die Kleine ganz mitleidig
zu mir herüber, und als ich es wagte, ihr freundlich zuzunicken, nickte
sie sehr ernsthaft wieder.
Bald aber zog der Vater seinen Kopf zurück und verschwand im
Hintergrund seines Bodenraumes. Statt seiner trat jetzt die große
blonde Frau zu dem Kinde; sie bemächtigte sich ihres Kopfes und
begann ihr das Haar zu strählen. Das Geschäft schien schweigend
vollzogen zu werden, und das Lisei durfte offenbar nicht mucksen,
obgleich es mehrmals, wenn ihr der Kamm so in den Nacken hinabfuhr,
die eckigsten Figuren mit ihrem roten Mäulchen bildete. Nur einmal

hob sie den Arm und ließ ein langes Haar über die Linde draußen in die
Morgenluft hinausfliegen. Ich konnte von meinem Fenster aus es
glänzen sehen; denn die Sonne war eben durch den Herbstnebel
gedrungen und schien drüben auf den oberen Teil des Herbergshauses.
Auch in den vorhin undurchdringlich dunkeln Bodenraum konnte ich
jetzt hineinsehen. Ganz deutlich erblickte ich in einem dämmerigen
Winkel den Mann an einem Tische sitzen; in seiner Hand blinkte etwas
wie Gold oder Silber; dann wieder war's wie ein Gesicht mit einer
ungeheueren Nase; aber sosehr ich meine Augen anstrengte, ich
vermochte nicht klug daraus zu werden.
Plötzlich hörte ich, als wenn etwas Hölzernes in einen Kasten geworfen
würde, und nun stand der Mann auf und lehnte aus einer zweiten Luke
sich wieder auf die Straße hinaus.
Die Frau hatte indessen der kleinen schwarzen Dirne ein verschossenes
rotes Kleidchen angezogen und ihr die Haarflechten wie einen Kranz
um das runde Köpfchen gelegt.
Ich sah noch immer hinüber. "Einmal" dachte ich, "könnte sie doch
wieder nicken."--"Paul, Paul!" hörte ich plötzlich unten aus unserem
Hause die Stimme meiner Mutter rufen.
"Ja, ja, Mutter!"
Es war mir ordentlich wie ein Schrecken in die Glieder geschlagen.
"Nun", rief sie wieder, "der Rechenmeister wird dir schön die Zeit
verdeutschen! Weißt du denn nicht, daß es lang schon sieben
geschlagen hat?"
Wie rasch polterte ich die Treppe hinunter!
Aber ich hatte Glück; der Rechenmeister war grad dabei, seine
Bergamotten abzunehmen, und die halbe Schule befand sich in seinem
Garten, um mit Händen und Mäulern ihm dabei zu helfen. Erst um
neun Uhr saßen wir alle mit heißen Backen und lustigen Gesichtern an
Tafel und Rechenbuch auf unseren Bänken.
Als ich um elf, die Taschen noch von Birnen starrend, aus dem
Schulhofe trat, kam eben der dicke Stadtausrufer die Straße herauf. Er
schlug mit dem Schlüssel an sein blankes Messingbecken und rief mit
seiner Bierstimme:
"Der Mechanikus und Puppenspieler Herr Joseph Tendler aus der
Residenzstadt München ist gestern hier angekommen und wird heute
abend im Schützenhofsaale seine erste Vorstellung geben. Vorgestellt

wird: Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genoveva, Puppenspiel mit
Gesang in vier Aufzügen."
Dann räusperte er sich und schritt würdevoll in der meinem Heimwege
entgegengesetzten Richtung weiter. Ich folgte ihm von Straße zu Straße,
um wieder und wieder die entzückende Verkündigung zu hören; denn
niemals hatte ich eine Komödie, geschweige denn ein Puppenspiel
gesehen.--Als ich endlich umkehrte, sah ich ein rotes Kleidchen mir
entgegenkommen; und wirklich, es war die kleine Puppenspielerin;
trotz ihres verschossenen Anzugs schien sie mir von einem
Märchenglanz umgeben.
Ich faßte mir ein Herz und redete sie an: "Willst du spazierengehen,
Lisei?"
Sie sah mich mißtrauisch aus ihren schwarzen Augen an. "Spazieren?"
wiederholte sie gedehnt. "Ach du--du bist g'scheit!"
"Wohin willst du denn?"
--"Zum Ellenkramer will i!"
"Willst du dir ein neues Kleid kaufen?" fragte ich tölpelhaft genug.
Sie lachte laut auf. "Geh! laß mi aus!--Nein; nur so Fetz'ln!"
"Fetz'ln, Lisei?"
--"Freili! Halt nur so Resteln zu G'wandl für die Pupp'n; 's kost't immer
nit viel!"
Ein glücklicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf. Ein alter Onkel von
mir hatte damals am Markte hier eine Ellenwarenhandlung, und sein
alter Ladendiener war mein
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