Philotas | Page 4

Gotthold Ephraim Lessing
die Götter vernichten; nur eine konnten sie
nicht: die Schande! Zwar jene leicht verfliegende wohl, die von der
Zunge des Pöbels strömt; aber nicht die wahre dauernde Schande, die
hier der innere Richter, mein unparteiisches Selbst, über mich
ausspricht!--
Und wie leicht ich mich verblende! Verlieret mein Vater durch mich
nichts? Der Ausschlag, den der gefangene Polytimet,--wenn ich nicht
gefangen wäre,--auf seine Seite brächte, der ist nichts!--Nur durch mich
wird er nichts!--Das Glück hätte sich erkläret, für wen es sich erklären
sollte; das Recht meines Vaters triumphierte, wäre Polytimet, nicht
Philotas und Polytimet gefangen!--
Und nun--welcher Gedanke war es, den ich itzt dachte? Nein; den ein
Gott in mir dachte--Ich muß ihm nachhängen! Laß dich fesseln,
flüchtiger Gedanke!--Itzt denke ich ihn wieder! Wie weit er sich
verbreitet, und immer weiter; und nun durchstrahlt er meine ganze
Seele!--
Was sagte der König? Warum wollte er, daß ich zugleich selbst einen
unverdächtigen Boten an meinen Vater schicken sollte? Damit mein

Vater nicht argwohne--wo waren ja seine eigne Worte--, ich sei bereits
an meiner Wunde gestorben.--Also meint er doch, wenn ich bereits an
meiner Wunde gestorben wäre, so würde die Sache ein ganz anders
Ansehn gewinnen? Würde sie das? Tausend Dank für diese Nachricht!
Tausend Dank!--Und freilich! Denn mein Vater hätte alsdenn einen
gefangenen Prinzen, für den er sich alles bedingen könnte; und der
König, sein Feind, hätte--den Leichnam eines gefangenen Prinzen, für
den er nichts fordern könnte; den er--müßte begraben oder verbrennen
lassen, wenn er ihm nicht zum Abscheu werden sollte.
Gut! das begreif' ich! Folglich, wenn ich, ich elender Gefangener,
meinem Vater den Sieg noch in die Hände spielen will, worauf kömmt
es an? Aufs Sterben. Auf weiter nichts?--O fürwahr; der Mensch ist
mächtiger, als er glaubt, der Mensch, der zu sterben weiß!
Aber ich? ich, der Keim, die Knospe eines Menschen, weiß ich zu
sterben? Nicht der Mensch, der vollendete Mensch allein, muß es
wissen; auch der Jüngling, auch der Knabe; oder er weiß gar nichts.
Wer zehn Jahre gelebt hat, hat zehn Jahre Zeit gehabt, sterben zu lernen;
und was man in zehn Jahren nicht lernt, das lernt man auch in zwanzig,
in dreißig und mehrern nicht.
Alles, was ich werden können, muß ich durch das zeigen, was ich
schon bin. Und was könnte ich, was wollte ich werden? Ein Held.--Wer
ist ein Held?--O mein abwesender vortrefflicher Vater, itzt sei ganz in
meiner Seele gegenwärtig!--Hast du mich nicht gelehrt, ein Held sei ein
Mann, der höhere Güter kennt als das Leben? Ein Mann, der sein
Leben dem Wohle des Staats geweihet; sich, den einzeln, dem Wohle
vieler? Ein Held sei ein Mann--Ein Mann? Also kein Jüngling, mein
Vater?--Seltsame Frage! Gut, daß sie mein Vater nicht gehöret hat! Er
müßte glauben, ich sähe es gern, wenn er Nein darauf antwortete.-- Wie
alt muß die Fichte sein, die zum Maste dienen soll? Wie alt? Sie muß
hoch genug, und muß stark genug sein.
Jedes Ding, sagte der Weltweise, der mich erzog, ist vollkommen,
wenn es seinen Zweck erfüllen kann. Ich kann meinen Zweck erfüllen,
ich kann zum Besten des Staats sterben: ich bin vollkommen also, ich
bin ein Mann. Ein Mann, ob ich gleich noch vor wenig Tagen ein

Knabe war.
Welch Feuer tobt in meinen Adern? Welche Begeisterung befällt mich?
Die Brust wird dem Herzen zu eng!--Geduld, mein Herz! Bald will ich
dir Luft machen! Bald will ich dich deines einförmigen langweiligen
Dienstes erlassen! Bald sollst du ruhen, und lange ruhen--
Wer kömmt? Es ist Parmenio.--Geschwind entschlossen!--Was muß ich
zu ihm sagen? Was muß ich durch ihn meinem Vater sagen
lassen?--Recht! das muß ich sagen, das muß ich sagen lassen.

Fünfter Auftritt.
Parmenio. Philotas.
Philotas. Tritt näher, Parmenio.--Nun? warum so schüchtern? So voller
Scham? Wessen schämst du dich? Deiner, oder meiner?
Parmenio: Unser beider, Prinz.
Philotas. Immer sprich, wie du denkst. Freilich, Parmenio, müssen wir
beide nicht viel taugen, weil wir uns hier befinden. Hast du meine
Geschichte bereits gehört?
Parmenio. Leider!
Philotas. Und als du sie hörtest?--
Parmenio. Ich bedauerte dich, ich bewunderte dich, ich verwünschte
dich, ich weiß selbst nicht, was ich alles tat.
Philotas. Ja, ja! Nun aber, da du doch wohl auch erfahren, daß das
Unglück so groß nicht ist, weil gleich darauf Polytimet von den
Unserigen--
Parmenio. Ja nun; nun möchte ich fast lachen. Ich finde, daß das Glück
zu einem kleinen Schlage, den es uns versetzen will, oft erschrecklich

weit ausholt. Man sollte glauben, es wolle uns zerschmettern, und hat
uns am Ende nichts, als eine Mücke auf der Stirne totgeschlagen.
Philotas. Zur Sache!--Ich soll dich mit dem Herolde des Königs zu
meinem Vater schicken.
Parmenio. Gut! So wird deine Gefangenschaft der meinigen das Wort
sprechen. Ohne die gute Nachricht, die ich ihm von dir bringen werde,
und die eine freundliche Miene wohl wert ist, hätte ich mir eine
ziemlich frostige von ihm versprechen müssen.
Philotas.
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