Phäenomenologie des Geistes | Page 9

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Um zum eigentlichen Wissen zu werden, oder das
Element der Wissenschaft, was ihr reiner Begriff ist, zu erzeugen, hat
er durch einen langen Weg sich hindurchzuarbeiten.--Dieses Werden,
wie es in seinem Inhalte und den Gestalten, die sich in ihm zeigen,
aufgestellt ist, erscheint als etwas anderes denn als die Anleitung des
unwissenschaftlichen Bewußtseins zur Wissenschaft; auch etwas
anderes als die Begründung der Wissenschaft;--so ohnehin, als die

Begeisterung, die wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen
unmittelbar anfängt, und mit andern Standpunkten dadurch schon fertig
ist, daß sie keine Notiz davon zu nehmen erklärt.
Die Aufgabe aber, das Individuum von seinem ungebildeten
Standpunkte aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn
zu fassen, und das allgemeine Individuum, der Weltgeist, in seiner
Bildung zu betrachten.--Was das Verhältnis beider betrifft, so zeigt sich
in dem allgemeinen Individuum jedes Moment, wie es die konkrete
Form und eigne Gestaltung gewinnt. Das besondre Individuum aber ist
der unvollständige Geist, eine konkrete Gestalt, deren ganzes Dasein
einer Bestimmtheit zufällt, und worin die andern nur in vermischten
Zügen vorhanden sind. In dem Geiste, der höher steht als ein anderer,
ist das niedrigere konkrete Dasein zu einem unscheinbaren Momente
herabgesunken; was vorher die Sache selbst war, ist nur noch eine Spur;
ihre Gestalt ist eingehüllt und eine einfache Schattierung geworden.
Diese Vergangenheit durchläuft das Individuum, dessen Substanz der
höherstehende Geist ist, auf die Art, wie der eine höhere Wissenschaft
vornimmt, die Vorbereitungskenntnisse, die er längst innehat, um sich
ihren Inhalt gegenwärtig zu machen, durchgeht; er ruft die Erinnerung
desselben zurück, ohne darin sein Interesse und Verweilen zu haben.
So durchlauft jeder einzelne auch die Bildungsstufen des allgemeinen
Geistes, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen
eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist; wie wir in Ansehung der
Kenntnisse das, was in frühern Zeitaltern den reifen Geist der Männer
beschäftigte, zu Kenntnissen, Übungen und selbst Spielen des
Knabensalters herabgesunken sehen, und in dem pädagogischen
Fortschreiten die wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der
Bildung der Welt erkennen werden. Dies vergangne Dasein ist schon
erworbnes Eigentum des allgemeinen Geistes, der die Substanz des
Individuums oder seine unorganische Natur ausmacht.--Die Bildung
des Individuums in dieser Rücksicht besteht, von seiner Seite aus
betrachtet, darin, daß es dies Vorhandne erwerbe, seine unorganische
Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme. Dies ist aber
ebensosehr nichts anders, als daß der allgemeine Geist oder die
Substanz sich ihr Selbstbewußtsein gibt, oder ihr Werden und
Reflexion in sich.
Die Wissenschaft stellt diese bildende Bewegung sowohl in ihrer

Ausführlichkeit und Notwendigkeit, als das, was schon zum Momente
und Eigentum des Geists herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar.
Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist. Die
Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels
ohne die Mittel. Einesteils ist die _Länge_ dieses Wegs zu ertragen,
denn jedes Moment ist notwendig,--andernteils bei jedem sich zu
verweilen, denn jedes ist selbst eine individuelle ganze Gestalt, und
wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als Ganzes
oder Konkretes, oder das Ganze in der Eigentümlichkeit dieser
Bestimmung betrachtet wird.--Weil die Substanz des Individuums, weil
der Weltgeist die Geduld gehabt, diese Formen in der langen
Ausdehnung der Zeit zu durchgehen und die ungeheure Arbeit der
Weltgeschichte zu übernehmen, und weil er durch keine geringere das
Bewußtsein über sich erreichen konnte, so kann zwar das Individuum
nicht mit weniger seine Substanz begreifen. Inzwischen hat es zugleich
geringere Mühe, weil an sich dies vollbracht,--der Inhalt schon die zur
Möglichkeit getilgte Wirklichkeit und die bezwungne Unmittelbarkeit
ist. Schon ein Gedachtes, ist er Eigentum der Individualität; es ist nicht
mehr das Dasein in das _An-sich-sein_, sondern nur _das An-sich_ in
die Form des _Für-sich_-seins umzukehren, dessen Art näher zu
bestimmen ist.
Was dem Individuum an dieser Bewegung erspart ist, ist das Aufheben
des _Daseins_; was aber noch übrig ist, ist die Vorstellung und die
Bekanntschaft mit den Formen. Das in die Substanz zurückgenommne
Dasein ist durch jene erste Negation nur erst unmittelbar in das
Element des Selbsts versetzt; es hat also noch denselben Charakter der
unbegriffnen Unmittelbarkeit oder unbewegten Gleichgültigkeit als das
Dasein selbst, oder es ist nur in die Vorstellung übergegangen.
--Zugleich ist es dadurch ein Bekanntes, ein solches, mit dem der Geist
fertig geworden, worin daher seine Tätigkeit und somit sein Interesse
nicht mehr ist. Wenn die Tätigkeit, die mit dem Dasein fertig wird, die
unmittelbare oder daseiende Vermittlung, und hiemit die Bewegung
nur des besondern sich nicht begreifenden Geistes ist, so ist dagegen
das Wissen gegen die hiedurch zustande gekommne Vorstellung, gegen
dies Bekanntsein gerichtet, ist das Tun des allgemeinen Selbsts und das
Interesse des Denkens.
Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.

Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim
Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen, und es sich ebenso
gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches
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