Ohne den Vater | Page 9

Agnes Sapper
sie
die Treppe hinauf gingen.
"Vor meiner Tür wird er gewiß ruhig liegen bleiben," versicherte

Gebhard.
"Das wird sich zeigen. Wenn Hunde in fremde Umgebung kommen,
heulen sie oft. Mich wundert, daß dir dein Vater erlaubt hat ihn
mitzunehmen!"
"Der Vater war gar nicht da, als wir abgereist sind." Gebhard hatte das
kaum gesagt, so merkte er, daß er besser darüber geschwiegen hätte.
"Wo ist denn dein Vater?" Was sollte Gebhard darauf antworten? Er
wußte es nicht.
"Ich meine wo dein Vater war, als ihr flüchten mußtet? Blieb er im
Forsthaus zurück?"
"Nein." Die sichtliche Verlegenheit des Knaben fiel dem Manne auf. Es
mußte etwas geschehen sein, was Mutter und Sohn nicht gern sagten.
Er wollte nicht weiter in das Kind dringen. Im oberen Stock des Hauses
war ein zweites Gastzimmer bereitet, fein und vornehm war auch hier
die Einrichtung. "Kommst du allein zurecht?" fragte der Onkel, "oder
soll ich dir das Stubenmädchen heraufschicken?"
"Nein danke, ich kann alles allein machen. Aber bitte, Onkel, wenn ich
Leo eine Strohmatte oder eine Decke vor meine Tür legen dürfte; er
versteht dann, daß er da hingehört."
Es fand sich eine Matte und der Hund nahm verständig seinen Platz ein.
Onkel und Neffe wünschten sich gute Nacht. Gebhard lag bald in dem
feinen Gastbett. Aber unter dem fremden Dach in dem einsamen
Schlafgemach überfiel ihn ein bitteres Heimweh und trotz aller
Müdigkeit konnte er nicht einschlafen. So weit, weit weg war er vom
Forsthaus! Und der Vater, wo war der? Der Vater, von dem man jetzt
gar nicht reden konnte, während man früher so stolz auf ihn war! Dem
kleinen Burschen war zumute, wie wenn ihm der Boden unter den
Füßen wankte, da mit der Heimat zugleich die klaren Verhältnisse der
glücklichen Kinderzeit schwanden, in denen er festgewurzelt war.

Wenn wenigstens die Mutter nebenan schliefe oder etwas von der
Kleinen zu hören wäre, aber gar so einsam war es hier oben! Lange
wehrte sich Gebhard als tapferer, kleiner Mann gegen die Tränen;
endlich kamen sie doch, das Schluchzen ließ sich nicht mehr
unterdrücken und schüttelte seinen Körper.
Mitten in der nächtlichen Stille wurde ein Laut hörbar. Gebhard setzte
sich auf, lauschte und vernahm ein leises Winseln vor der Türe. Sicher
hatte das wachsame Tier seines kleinen Herrn Schluchzen vernommen
und war beunruhigt. Oder hatte es selbst Heimweh? Noch einmal
derselbe ungewohnte Laut. Es klang so traurig! Da mußte Gebhard
trösten. Er tastete sich in der Finsternis an die Türe und hatte kaum
einen Spalt geöffnet, so zwängte sich der Hund herein und drängte sich
mit freudigem Bellen an seinen Herrn.
"Still, still!" mahnte Gebhard und das gut gezogene Tier verstummte
sofort, aber es wedelte und bezeugte seine größte Freude. "Ja, ja, du
darfst hier bleiben," flüsterte Gebhard, "du hast Heimweh; komm her!"
Er holte leise die Matte herein und legte sie neben sein Bett. "So, dann
sind wir beisammen, ganz nahe. Leg dich!"
Vom Bett aus konnte Gebhard seinen Leo streicheln. Nun wich das
Gefühl der Einsamkeit, vorbei war's mit den nächtlichen Tränen. Schon
nach wenigen Minuten hatten die beiden guten Kameraden den Schlaf
gefunden.
In der Frühe des nächsten Morgen, noch ehe es heller Tag war,
schreckte Helene auf durch ein Klingeln an der Haustüre. Wer kam so
frühe? Sicher ihr Mann oder doch eine Nachricht von ihm! Im Nu warf
sie einen Morgenrock um, eilte hinaus an die Treppentüre, denn sie
selbst wollte ihm öffnen, ihn hereinführen in ihr Zimmer, ihn lieb
haben. Ach--beschämt stand sie vor dem Milchmann und vor dem
Küchenmädchen, die beide mit erstaunten Augen auf die junge Frau
schauten; ohne ein Wort kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück.
Das war die erste Enttäuschung und es folgten jede Stunde neue, denn
der sehnlich Erwartete kam nicht, und keine Post brachte Nachricht von
ihm.

Bruder und Schwägerin ließen sich's einen ganzen Tag gefallen, im
Unklaren zu bleiben über das Schicksal, das die Familie Stegemann
getrennt hatte; sahen sie doch, wie verstört Mutter und Sohn waren und
daß sie sich nicht entschließen konnten, von dem Erlebten zu sprechen.
Die Schwägerin war eine gutmütige Frau, hatte Helene lieb und wollte,
daß die Vertriebenen sich wohl fühlten in ihrem Haus. Es war ja auch
alles in Hülle und Fülle da und keine Kriegsnot zu verspüren; denn in
der Kurz'schen Fabrik, die in Friedenszeit allerlei feine Stahlwaren
herstellte, wurden nun Granaten gemacht; der Betrieb war Tag und
Nacht im Gang und es ging mehr Geld ein als je in früheren Zeiten.
Viele beneideten die Familie Kurz und wollten ihr den wachsenden
Reichtum mißgönnen. So kam es dem Fabrikherrn und seiner Frau
ganz erwünscht, daß die Vertriebenen bei ihnen Zuflucht suchten.
Jedermann konnte nun sehen, daß von diesem Reichtum guter
Gebrauch gemacht wurde. Aber unbequem waren die Fragen der
Bekannten nach den Schicksalen der jungen Familie, nach dem
Verbleib des Försters Stegemann. Was sollte man antworten, wenn
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