Ohne den Vater | Page 8

Agnes Sapper
der Großmutter
suchen!"
"Wir schreiben der Großmutter, wo wir sind!"
"Kommt dann der Vater zu uns, weiß er, wo das ist?"
"Aber freilich weiß er das, Gebhard. Bei meinem Bruder und seiner
Frau war ja unsere Hochzeit, dort hat mich der Vater geholt, weil ich
keine Eltern mehr habe. Mein Bruder hat mich auch so lieb, weißt du,
fast wie wenn ich sein Kind wäre. Er ist viel älter als ich." Gebhard
überlegte. "Ja, dann kann ich das schon begreifen, daß du zu ihm
möchtest."
Seufzend ergab er sich.
Nach manchem unfreiwilligen Aufenthalt und schier unerträglicher
Fahrt kam Helene mit den beiden Kindern am späten Abend an ihrem
Bestimmungsort an. Wohl hatte sie ihr Kommen angekündigt, aber Tag
und Stunde voraus anzugeben, war in dieser Zeit unmöglich. So stand
sie nun in dunkler Nacht, mit den übermüdeten Kindern, mit dem Hund
und vielem Gepäck auf dem Bahnsteig, und wußte nicht, wie sie nun
bis in ihres Bruders Haus kommen sollte. Alles an dem Bahnhof hatte
ein anderes Aussehen als früher. Befremdet sah Helene um sich. Sie
hatte nicht gedacht, daß auch auf dem Bahnhof dieser kleineren Stadt
die Kriegszeit sich so bemerklich machte. An ihr vorbei eilte eine
weibliche Gestalt in großer, weißer Schürze, am Ärmel mit dem Roten
Kreuz gezeichnet. Einen Eimer heißen Tee am Arm ging sie von
Wagen zu Wagen und bot den durchreisenden Soldaten die Labung an.
Einer derselben, ein Landwehrmann, lehnte dankend ab. "Wir haben
erst in der vorigen Station Tee bekommen, aber wenn Sie sich um die

junge Frau mit den Kindern da drüben annehmen wollten, die haben
mich schon lang gedauert, sie sind aus ihrer Heimat vertrieben!"
Die Helferin wandte sich nach der bezeichneten Stelle, sah die hilflose
Gruppe und ging sofort darauf zu. "Reihen Sie noch weiter, kann ich
Ihnen helfen?" frug sie Helene. Aber als sie dicht voreinander standen,
erkannten sich die beiden Frauen. Sie waren einst zusammen in die
Schule gegangen.
"Ich habe dich gar nicht gleich erkannt, Helene; ist das dein Kindchen?
Hast du allein reisen müssen? Dein Mann ist wohl einberufen? Du
Ärmste, du siehst so angegriffen aus. Wirst du nicht abgeholt? Nein?
Warte nur ein klein wenig, ich helfe dir. Sieh, dort ist eine Bank, setzt
euch einstweilen!" Sie eilte wieder an den Zug, da und dort wurde sie
angerufen und um Tee gebeten.
Ein blutjunger Freiwilliger reichte eine Postkarte heraus, bat, man
möchte ihm die Liebe erweisen, sie einzuwerfen, weil seine Mutter sich
gar so sehr um ihn sorge. So war sie voller Tätigkeit, bis der Zug
wieder davon fuhr. Dann aber eilte sie zu der kleinen Gruppe müder
Menschen, die auf sie harrten, und es gelang ihr, einen Wagen für sie
aufzutreiben und sie samt Gepäck und Hund glücklich darin
unterzubringen. "Zu Fabrikant Kurz," lautete die Anweisung für den
Kutscher.
Die Fahrt ging durch dunkle Straßen, denn an den Laternen wurde
gespart in dieser Kriegszeit. Fast Mitternacht war es, bis sie am Haus
hielten, aber doch war ein Fenster noch erleuchtet und wurde bei dem
Anfahren des Wagens geöffnet. "Wer kommt?" rief eine Stimme von
oben. "Wir sind's, Bruder!"
Einen Augenblick später wurde die Haustüre geöffnet und der Bruder,
Fabrikant Kurz, hieß seine nächtlichen Gäste willkommen. "Verzeih,
daß wir euch so spät bei Nacht ins Haus fallen," sagte Helene, "es ließ
sich nicht ändern."
"Es ist für mich nicht spät, ich habe jetzt oft bis in die Nacht hinein zu
arbeiten. Aber gehört denn der Hund auch zu euch? Den habt ihr mit

hieher gebracht?" Mißfällig betrachtete er Leo, der sich an Gebhard
drängte.
"Es ist Gebhards Liebling, sie sind so anhänglich aneinander!" Herr
Kurz beachtete jetzt erst seinen kleinen Neffen.
"Das ist also Gebhard? Wir waren eigentlich der Meinung, er käme zu
seiner Großmutter; aber kommt nur herauf, es sind zwei Gastzimmer
gerichtet. Was ist mit deinem Mann, ist er einberufen?"
"Nein; er wird bald nachkommen."
"Warum hat er dich nicht auf der langen Reise begleitet? Muß er noch
im Forsthaus bleiben?"
Helene zögerte mit der Antwort. "Ich erzähle dir das morgen. Wir sind
so müde, wenn wir uns vielleicht gleich legen dürften!"
"Ihr müßt doch vorher essen!"
"Danke, wir bekamen unterwegs was wir brauchten, nur Ruhe möchten
wir."
Der Hausherr hatte dem Stubenmädchen geklingelt, das erschien nun
um an Stelle der Hausfrau, die nicht gestört werden sollte, für die Gäste
zu sorgen.
Ein schönes Gastzimmer mit allen Bequemlichkeiten war für Helene
gerichtet, auch ein Kinderwagen stand bereit. Gerührt dankte sie dem
Bruder für diese Fürsorge. Die Kleine, die schlafend angekommen war,
erwachte jetzt und fing kräftig an zu schreien. Der Hausherr, der selbst
keine Kinder hatte, sah ratlos auf das kleine, ungebärdige Wesen,
befahl dem Mädchen alles weitere zu besorgen und wünschte der
Schwester gute Nacht. Gebhard nahm er mit sich, Leo folgte. "Wenn
nur der Hund die Nachtruhe nicht stört!" sagte der Onkel, während
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