Ohne den Vater | Page 6

Agnes Sapper

sie nicht an den Tisch. "Das bleibt!" rief sie.
"Kein Wunder, daß die arme, junge Frau ganz verwirrt ist," dachte das
Mädchen.

Im Hof war alles zur Flucht bereit. Die Hunde sprangen um den Wagen.
Sie sollten mitlaufen bis zum Haus des Straßenwärters, meinte der
Knecht, der solle sie aufnehmen. "Aber Leo gebe ich nicht her, den
nehme ich mit!" erklärte Gebhard. Der Knecht machte Einwendungen.
Unmöglich sei das auf der langen Reise, bei den überfüllten Zügen. Ein
Unverstand wäre es. Die Mutter sah ein, daß er recht hatte, aber sie
wußte auch, was es für Gebhard bedeutete, sich von seinem Leo zu
trennen. Der Vater hatte ihm vor Jahresfrist das junge Tier geschenkt;
ihm gelehrt, es zu behandeln; zu einem folgsamen, anhänglichen
Kameraden war es herangewachsen und von seinem kleinen Herrn
unzertrennlich gewesen. Auch jetzt standen sie dicht beisammen,
Gebhard und sein Hund, sahen sich an und das kluge Tier schien zu
merken, daß über sein Schicksal entschieden wurde. Ein ungewohntes,
kurzes Bellen gab es von sich.
Die Mutter wandte sich an den Knecht. "Wir wollen es doch versuchen,
ob wir Leo mitnehmen können!"
"O ja, bitte, Mutter!"
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Das Töchterlein auf der Mutter
Schoß, weich gebettet, schlief sanft ein. Gebhard saß der Mutter
gegenüber. Sie hielten bald bei dem Straßenwärter, dann ging die Fahrt
weiter, der Bahn zu. Längs der Straße zog sich der Wald hin, aus dem
jeden Augenblick die Feinde auftauchen und die Wehrlosen überfallen
konnten. Und in den Händen dieser Feinde war der geliebte Mann, der
treue Vater.
"Gebhard," sagte die Mutter leise, daß es der Knecht auf dem Bock
nicht höre, "Gebhard, du hast doch auch gehört, daß der russische
Offizier gesagt hat: 'auf Offiziersehre.'"
"Ja. Zweimal hat er das gesagt."
"Solch ein Schwur wird doch sicher auch im Krieg gehalten," sagte
Helene und fügte bei: "Also kommt der Vater sicher morgen oder
spätestens übermorgen. Wenn es nur schon morgen wäre!"

Gebhard wandte sich ab und sagte kein Wort darauf. Mit fest
geschlossenem Mund sah er durchs Fenster.
Die Stille bedrückte die Mutter. Sie redete ihn nach einer Weile wieder
an: "Warum bist du so still, Gebhard? Hast du Angst, daß die Russen
aus dem Wald kommen? Wir sind jetzt schon nahe der Station, hier ist's
nicht mehr so gefährlich."
"Ich habe keine Angst."
"Hast du Heimweh nach dem Forsthof? Nach dem Frieden kommen wir
alle wieder zurück."
Aber Gebhard schwieg und die Mutter sah wohl, daß er kämpfte, die
Tränen zurückzuhalten, die ihm in die Augen kamen.
Sie streckte die Hand nach ihm aus. "Komm, setze dich neben mich,
Gebhard; komm her zu mir, sage mir, was dir so traurig ist. Der Vater
kommt uns doch morgen nach."
Nun kam es unter lautem Schluchzen bebend heraus: "Ich kann mich ja
nicht auf den Vater freuen. Ich kann jetzt doch den Vater nie mehr lieb
haben und habe ihn doch so lieb!"
Helene erschrak in tiefster Seele. Sie selbst war so voll Liebe und
Sehnsucht nach ihrem Mann, sie hatte das innigste Verlangen nach ihm
und Gebhard, sein geliebter Bub, sprach solche Worte!
"Wie darfst du so reden, Gebhard," rief sie erregt, "wo er doch alles nur
uns zuliebe getan hat. Er konnte ja auch gar nicht anders!"
"Doch, Mutter, weißt du nicht mehr? Zuerst hat er ganz fest nein gesagt;
aber dann hast du die Türe aufgemacht und hast gerufen 'rette uns'.
Dann hat dich der Vater angesehen. O hättest du doch die Türe nicht
aufgemacht, dann wäre der Vater kein Verräter!"
Die Mutter erblaßte und ließ seine Hand los. Nach einer kleinen Weile
sagte sie in einem ernsten, fremden Ton: "Wenn der Vater

zurückkommt, so sage so etwas nie zu ihm, sonst machst du ihn ganz
unglücklich. Nie sollst du zu irgend jemand wieder so reden!" Dann
wandte sie sich ab und er fühlte, daß es ihr jetzt lieb wäre, wenn er
nicht neben ihr säße, ging auf seinen ersten Platz zurück und dachte:
"Die Mutter kann mich jetzt nicht mehr lieben und ich kann den Vater
nicht mehr lieb haben, alles, was schön war, ist vorüber." Er saß wieder
an seinem Fensterplatz, Wald war nicht mehr zu sehen, unbekanntes
Land, alles, alles anders.
Eine Stunde darnach langten sie an der Station an, waren bald im
ärgsten Gewühl, hatten aber noch die Hilfe von Knecht und Magd, die
erst später in anderer Richtung abfahren konnten. Am Schalter drängten
sich die Leute. Helene verlangte Karten für sich und Gebhard. "Und
eine Hundekarte."
"Das gibt's jetzt nicht."
"Darf er mit in den Personenwagen?"
"Keine Rede. Wir sind froh, wenn wir die Menschen unterbringen.
Weiter!"
Helene wurde von den Nachdrängenden ungeduldig weggeschoben.
Was war nun zu tun mit Leo? Der Knecht tröstete Gebhard, versprach
ihm, den Hund gut unterzubringen. Und Gebhard sah ein, daß es nicht
anders sein konnte; die Reisenden umdrängten Mutter
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