Moni der Geißbub | Page 9

Johanna Spyri
und teilnehmend
fragte: "Moni, was fehlt dir? Warum singst du denn gar nicht
mehr?"--da wandte er sich scheu ab und sagte: "Ich kann nicht." Und so
schnell wie möglich machte er sich mit seinen Geißen davon.
Paula sagte oben zu ihrer Tante: "Wenn ich doch nur wußte, was der
Geißbub hat, er ist ja ganz verändert, man kennt ihn gar nicht mehr.
Wenn er doch nur wieder sänge."

"Es wird der schreckliche Regen sein, der den Buben so verstimmt",
meinte die Tante.
"Nun kommt auch alles zusammen. Wir wollen doch heimgehen,
Tante", bat Paula, "das Vergnügen hier ist aus. Erst verliere ich mein
schönes Kreuz, und es ist nicht mehr zu finden. Dann kommt dieser
endlose Regen, und nun kann man nicht einmal mehr den lustigen
Geißbuben zuhören. Wir wollen fort."
"Die Kur muß zu Ende gemacht werden, da kann ich dir nicht helfen",
erklärte die Tante.
Dunkel und grau war es auch am folgenden Morgen, und der Regen
strömte unausgesetzt nieder. Moni brachte seinen Tag ebenso zu wie
den vorhergegangenen. Er saß unter dem Felsen, und seine Gedanken
gingen ruhelos immer im Kreise herum. Immer wenn er zu sich sagte:
"Jetzt will ich gehen und das Unrecht gestehen, damit ich wieder zum
lieben Gott aufsehen darf", da sah er wieder das Zicklein unter dem
Messer vor sich. Er dachte nach, und sein schlechtes Gewissen plagte
ihn so sehr, daß er am Abend ganz müde war und im strömenden
Regen heimschlich, als merkte er nichts davon.
Beim Badehaus stand der Wirt in der Hintertür und fuhr den Moni an:
"Komm einmal mit den Geißen her, sie sind naß genug! Was kriechst
du auch wie eine Schnecke den Berg hinunter! Ich wundere mich schon
die ganze Zeit über dich."
So unfreundlich war der Wirt noch nie gewesen, im Gegenteil, immer
hatte er dem fröhlichen Geißbuben die freundlichsten Worte zugerufen.
Aber Monis verändertes Wesen gefiel ihm nicht, und dazu war er noch
schlechter Laune, denn Fräulein Paula hatte ihm ihren Verlust geklagt.
Sie hatte behauptet, das kostbare Kreuz könne nur im Haus oder
unmittelbar vor der Haustür verloren gegangen sein. Denn sie sei an
jenem Tag nur herausgegangen, um abends den heimkehrenden
Geißbuben singen zu hören. Daß man aber sagen sollte, es könne in
seinem Haus ein so wertvolles Ding verloren gehen, ohne daß man es
wieder erhalte, machte ihn sehr böse. Er hatte auch am Tag vorher das
ganze Dienstpersonal versammelt, es verhört und bedroht und endlich

dem Finder eine Belohnung ausgesetzt. Das ganze Haus war in Aufruhr
über den verlorenen Schmuck.
Als Moni mit seinen Geißen an der Vorderseite des Hauses vorbeiging,
stand Paula dort. Sie hatte auf ihn gewartet, es wunderte sie so sehr, ob
er immer noch nicht wieder singen könne und lustig sei. Als er nun
vorbeischlich, rief sie: "Moni! Moni! Bist du denn auch derselbe
Geißbub, der vom Morgen bis zum Abend sang:
"'Und so blau ist der Himmel, Und ich freu mich fast zu Tod'?"
Moni hörte die Worte, er gab keine Antwort, aber sie machten einen
großen Eindruck auf ihn.
Oh, wie war's doch so anders, als er den ganzen Tag singen konnte und
er so fröhlich war wie seine Lieder. Oh, wenn es doch wieder so sein
könnte!
Wieder zog Moni zu seiner Anhöhe hinauf, still und freudlos und ohne
Gesang. Der Regen hatte nun aufgehört, aber düster hingen ringsum die
Nebel an den Bergen, und der Himmel war noch voll dunkler Wolken.
Moni setzte sich wieder unter den Felsen und kämpfte mit seinen
Gedanken. Gegen Mittag fing der Himmel an, sich aufzuklären, es
wurde heller und heller. Moni kam aus seiner Höhle hervor und schaute
umher. Die Geißen sprangen wieder lustig hin und her, auch das
Zicklein war ganz übermütig vor Freuden über die wiederkehrende
Sonne und machte die fröhlichsten Sprünge.
Moni stand draußen auf der Kanzel und sah, wie es immer schöner und
heller wurde unten im Tal und oben über dem Berge. Jetzt teilten sich
die Wolken und der lichtblaue Himmel schaute so lieblich und
freundlich herunter. Es war Moni, als schaue der liebe Gott aus dem
lichten Blau zu ihm nieder. Und auf einmal war es in seinem Herzen
ganz klar, was er tun mußte, er konnte das Unrecht nicht mehr mit sich
herumfragen. Er mußte es ablegen. Jetzt ergriff Moni das Zicklein, das
neben ihm umhersprang, nahm es in seinen Arm und sagte mit
Zärtlichkeit: "O Mäggerli, du armes Mäggerli! Ich habe gewiß getan,
was ich konnte, aber es ist ein Unrecht, und das darf man nicht tun. Oh,

wenn du nur nicht sterben müßtest, ich kann es nicht aushalten!" Und
nun fing Moni so sehr zu weinen an, daß er nicht mehr weiter reden
konnte. Und das Zicklein meckerte wehmütig und kroch tief unter
seinen Arm, als wollte es sich ganz bei ihm verstecken und in
Sicherheit bringen. Jetzt hob
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