Moni der Geißbub | Page 6

Johanna Spyri
stehenlassen müssen, weil wir dem Mäggerli
helfen mußten, jetzt geht's noch einmal hinauf, da könnt ihr fertig
nagen!" Und mit Freuden sprangen ihm die Geißen alle nach, denn sie
merkten, daß es zu den schönen Büschen an den Drachensteinen hinauf
ging. Diesmal hielt Moni aber sein kleines Mäggerli die ganze Zeit im
Arm fest, riß ihm die guten Blättlein selber ab und ließ es aus seiner
Hand fressen. Das gefiel dem Geißlein am allerbesten, es rieb ganz
vergnügt von Zeit zu Zeit sein Köpfchen an Monis Schulter und
meckerte fröhlich. So war der ganze Morgen vergangen und Moni
merkte erst an seinem Hunger, daß es spät geworden war. Er hatte aber
sein Essen unten bei der Felsenkanzel in der kleinen Höhle hegen
lassen, da er mittags wieder hinunter kommen wollte.
"So, ihr habt nun schon viel Gutes bekommen, und ich habe noch gar
nichts", sagte er zu seinen Geißen. "Jetzt muß ich auch etwas haben
und unten findet ihr noch genug, kommt!" Dann pfiff er laut, und die
ganze Schar zog auf und davon, die lebhaftesten immer voran und allen
voraus die leichtfüßige Schwalbe, der heute etwas Unerwartetes
begegnen sollte. Sie sprang hinunter von Stein zu Stein und über
manche Felsspalte weg, aber auf einmal konnte sie nicht weiter.
Unmittelbar vor ihr stand ganz plötzlich eine Gemse und schaute ihr
neugierig ins Gesicht. Das war der Schwalbe noch nicht vorgekommen.
Sie stand da, schaute die Fremde fragend an und wartete, daß ihr diese
aus dem Weg gehe. Denn sie wollte auf den Felsblock springen, der vor
ihr aufragte. Aber die Gemse rührte sich nicht und schaute der
Schwalbe frech ins Gesicht. So standen beide voreinander, immer
hartnäckiger, und noch heute würden sie dort stehen, wenn nicht
inzwischen der große Sultan herbeigekommen wäre. Sofort erkannte er
die Sachlage und kletterte vorsichtig an der Schwalbe vorbei. Plötzlich
stieß er die Gemse so weit und so gewaltig auf die Seite, daß sie einen
kühnen Sprung machen mußte, um nicht über die Felsen
hinabzurutschen.

Die Schwalbe aber zog triumphierend ihres Weges, und der Sultan
schritt befriedigt und stolz hinter ihr her, denn er fühlte sich als sicherer
Beschützer seiner Herde. Inzwischen war von oben herab Moni und
von unten herauf ein anderer Geißbub auf einem nahen Platz
angekommen und blickten auch erstaunt einander an. Aber sie kannten
sich, und nach der ersten Überraschung begrüßten sie sich freundlich.
Es war der Jörgli von Küblis, der schon den halben Morgen lang
vergebens den Moni gesucht hatte und ihn nun hier oben traf, wo er ihn
gar nicht mehr vermutete.
"Ich habe nicht gedacht, daß du so hoch hinaufgehen würdest mit den
Geißen", sagte der Jörgli.
"Freilich gehe ich", entgegnete Moni, "aber nicht immer. Gewöhnlich
bin ich bei der Felsenkanzel. Warum bist du da heraufgekommen?"
"Ich will dir einen Besuch machen", war die Antwort, "ich habe dir
allerhand zu erzählen. Auch habe ich hier zwei Geißen, die bringe ich
dem Wirt im Bad, er will eine kaufen, und da dachte ich, ich wollte
noch zu dir hinauf."
"Sind es deine Geißen?" fragte Moni.
"Natürlich, die fremden habe ich nicht zu hüten, ich bin nicht mehr
Geißbub."
Darüber mußte sich Moni sehr wundern, denn zu gleicher Zeit mit ihm
war der Jörgli Geißbub von Küblis geworden, und Moni begriff nicht,
daß das so aufhören konnte und der Jörgli nicht einmal jammerte.
Inzwischen waren Hirten und Geißen bei der Felsenkanzel
angekommen. Moni holte Brot und ein Stückchen getrocknetes Fleisch
hervor und lud den Jörgli zum Mittagessen ein. Sie setzten sich beide
auf die Kanzel hinaus und ließen sich's gut schmecken. Denn es war
sehr spät geworden, und sie hatten beide ausgezeichneten Appetit. Als
nun alles aufgegessen und dann noch ein wenig Geißmilch getrunken
worden war, legte sich der Jörgli ganz behaglich der Länge nach auf
den Boden und stützte seinen Kopf auf beide Ellbogen. Moni aber war

sitzen geblieben, denn er schaute immer gern von oben in das tiefe Tal
hinunter.
"Was bist du denn jetzt, Jörgli, wenn du nicht mehr Geißbub bist?" fing
Moni nun an, "etwas mußt du doch sein."
"Freilich bin ich etwas und etwas Rechtes", erwiderte Jörgli, "Eierbub
bin ich. Jeden Tag gehe ich mit den Eiern in alle Wirtshäuser, so weit
ich komme. Hier hinauf ins Badehaus komme ich auch, gestern war ich
schon dort."
Moni schüttelte den Kopf: "Das ist nichts, Eierbub möchte ich nicht
sein, tausendmal lieber will ich Geißbub sein, das ist viel schöner."
"Ja warum denn?"
"Die Eier sind ja nicht lebendig, mit denen kannst du kein Wort reden.
Und sie laufen dir nicht nach wie die Geißen, die sich freuen, wenn du
kommst und anhänglich sind und jedes Wort verstehen, das du mit
ihnen redest. Du kannst keine Freude mit deinen Eiern haben wie mit
den Geißen hier oben."
"Ja und du", unterbrach ihn Jörgli, "was hast du denn für große
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