Moni der Geißbub | Page 2

Johanna Spyri

einem Rudel kam der Geißbub herabgesprungen und sang eben noch
sein Lied zu Ende:
"Und im Winter bleib ich fröhlich, Weil's Weinen nichts nützt, Und
weil ihm sowieso der Frühling Auf den Fersen schon sitzt."
Dann ließ er einen ungeheuren Jodel erschallen. Und auf einmal stand
er mit seinem Rudel dicht vor den Damen, denn mit seinen nackten
Füßen sprang er genauso flink und leise wie seine Tierchen.
"Guten Abend wünsche ich", sagte er, indem er die beiden lustig
anschaute, und wollte weiterziehen. Aber der Geißbub mit den
fröhlichen Augen gefiel den Damen. "Wart ein wenig", sagte Paula,
"bist du der Geißbub von Fideris? Hast du Geißen aus dem Dorf
unten?"

"Ja natürlich", war die Antwort.
"Gehst du alle Tage mit ihnen da hinauf?"
"Ja freilich."
"So, so, und wie heißt du denn?"
"Moni heiße ich."
"Willst du mir auch das Lied einmal singen, das du eben gesungen hast?
Wir haben erst einen Vers gehört."
"Das ist zu lang", erklärte Moni, "es wird zu spät für die Geißen, sie
müssen heim." Er rückte sein altes Hütchen zurecht, schwang seine
Rute in der Luft und rief den Geißen zu, die schon überall zu nagen
angefangen hatten: "Heim! Heim!"
"So singst du mir's doch ein andermal, Moni, nicht wahr?" rief ihm
Paula nach.
"Ja, das will ich und gute Nacht!" rief er zurück, setzte sich nun mit den
Geißen in Trab, und in kurzer Zeit stand die ganze Herde unten, wenige
Schritte vom Badehaus bei dem Hintergebäude still. Denn hier hatte
Moni die Geißen, die zum Haus gehörten, die schöne weiße und die
schwarze mit dem zierlichen Zicklein abzugeben. Moni behandelte
letzteres mit größter Sorgfalt, denn es war ein zartes Tierchen, und er
liebte es von allen am meisten. Es war auch so anhänglich, daß es ihm
den ganzen Tag immer nachlief. Er zog es auch jetzt ganz zärtlich zu
sich und stellte es in seinen Stall hinein. Dann sagte er: "So, Mäggerli,
nun schlaf gut, du bist müde. Es ist sehr weit bis dort hinauf, und du
bist noch so klein. Leg dich jetzt nur gleich hin, siehst du, so in das
gute Stroh hinein."
Nachdem er so das Mäggerli zur Ruhe gebettet hatte, zog er eilig weiter
mit seiner Schar, erst vor dem Badehaus den Hügel hinauf und dann die
Straße hinunter dem Dorf zu. Hier nahm er sein Hörnchen vor den
Mund und blies so gewaltig hinein, daß es dröhnte bis weit ins Tal

hinab. Von allen verstreuten Höfen her kamen jetzt die Kinder gelaufen,
jedes stürzte auf seine Geiß, die es aus der Ferne schon kannte. Und
von den nahen Häusern her kam hier eine Frau und dort eine, faßte ihr
Geißlein am Strick oder am Horn, und in kurzer Zeit war die ganze
Herde auseinandergestoben, und jedes Tierlein kam an seinen Ort.
Zuletzt stand der Moni noch allein mit der Braunen, seiner eigenen
Geiß, und mit ihr ging er zu dem Häuschen am Bergabhang, wo schon
die Großmutter ihn in der Tür erwartete.
"Ist alles gut gegangen, Moni?" fragte sie freundlich, führte dann die
Braune in den Stall und fing gleich an, sie zu melken. Die Großmutter
war noch eine rüstige Frau und besorgte alles selbst im Haus und im
Stall und hielt überall Ordnung. Moni stand in der Stalltür und schaute
der Großmutter zu. Als das Melken beendet war, trat sie ins Häuschen
und sagte: "Komm, Moni, du wirst Hunger haben."
Sie hatte auch schon alles hergerichtet. Moni konnte sich sofort an den
Tisch setzen. Sie nahm neben ihm Platz. Obwohl es nur eine Schüssel
voll Maisbrei mit der Milch der Braunen gab, so ließ sich's Moni doch
herrlich schmecken. Dabei erzählte er der Großmutter, was er den Tag
über erlebt hatte, und sobald er sein Mahl beendet hatte, zog er sich auf
sein Lager zurück, denn er mußte sich ja früh am Morgen wieder mit
der Herde auf den Weg machen.
Auf diese Weise hatte Moni schon zwei Sommer verbracht, so lange
schon war er Geißbub. Er war jetzt so an dieses Leben gewöhnt und mit
seinen Tierchen verbunden, daß er sich's gar nicht anders denken
konnte. Mit seiner Großmutter lebte Moni zusammen, solange er sich
besinnen konnte. Seine Mutter war gestorben, als er noch ganz klein
war. Sein Vater zog bald danach mit anderen zum Kriegsdienst nach
Neapel, um etwas zu verdienen, denn er meinte, das gehe dort
schneller.
Die Mutter seiner Frau war auch arm, aber sie nahm auf der Stelle das
verlassene Büblein ihrer Tochter, den kleinen Salomon, zu sich und
teilte mit ihm, was sie hatte. Es lag auch ein Segen auf ihrem Häuschen,
und noch nie hatte sie Not leiden müssen.

Die brave, alte Elsbeth war auch im ganzen Dorf beliebt, und als vor
zwei Jahren ein anderer Geißbub ausgewählt wurde, da fielen alle
Stimmen einstimmig auf den Moni. Denn jeder gönnte es
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