Tugend die ewigen sind--
Sara. Meiner Tugend? Nennen Sie mir dieses Wort nicht!--Sonst klang
es mir süße, aber itzt schallt mir ein schrecklicher Donner darin!
Mellefont. Wie? muß der, welcher tugendhaft sein soll, keinen Fehler
begangen haben? Hat ein einziger so unselige Wirkungen, daß er eine
ganze Reihe unsträflicher Jahre vernichten kann? So ist kein Mensch
tugendhaft; so ist die Tugend ein Gespenst, das in der Luft zerfließet,
wenn man es am festesten umarmt zu haben glaubt; so hat kein weises
Wesen unsere Pflichten nach unsern Kräften abgemessen; so ist die
Lust, uns strafen zu können, der erste Zweck unsers Daseins; so ist--ich
erschrecke vor allen den gräßlichen Folgerungen, in welche Sie Ihre
Kleinmut verwickeln muß! Nein, Miß, Sie sind noch die tugendhafte
Sara, die Sie vor meiner unglücklichen Bekanntschaft waren. Wenn Sie
sich selbst mit so grausamen Augen ansehen, mit was für Augen
müssen Sie mich betrachten!
Sara. Mit den Augen der Liebe, Mellefont.
Mellefont. So bitte ich Sie denn um dieser Liebe, um dieser
großmütigen, alle meine Unwürdigkeit übersehenden Liebe willen, zu
Ihren Füßen bitte ich Sie: beruhigen Sie sich. Haben Sie nur noch
einige Tage Geduld.
Sara. Einige Tage! Wie ist ein Tag schon so lang!
Mellefont. Verwünschtes Vermächtnis! Verdammter Unsinn eines
sterbenden Vetters, der mir sein Vermögen nur mit der Bedingung
lassen wollte, einer Anverwandtin die Hand zu geben, die mich
ebensosehr haßt als ich sie! Euch, unmenschliche Tyrannen unserer
freien Neigungen, Euch werde alle das Unglück, alle die Sünde
zugerechnet, zu welchen uns Euer Zwang bringet!--Und wenn ich ihrer
nur entübriget sein könnte, dieser schimpflichen Erbschaft! Solange
mein väterliches Vermögen zu meiner Unterhaltung hinreichte, habe
ich sie allezeit verschmähet und sie nicht einmal gewürdiget, mich
darüber zu erklären. Aber itzt, itzt, da ich alle Schätze der Welt nur
darum besitzen möchte, um sie zu den Füßen meiner Sara legen zu
können, itzt, da ich wenigstens darauf denken muß, sie ihrem Stande
gemäß in der Welt erscheinen zu lassen, itzt muß ich meine Zuflucht
dahin nehmen.
Sara. Mit der es Ihnen zuletzt doch wohl noch fehlschlägt.
Mellefont. Sie vermuten immer das Schlimmste.--Nein; das
Frauenzimmer, die es mit betrifft, ist nicht ungeneigt, eine Art von
Vergleich einzugehen. Das Vermögen soll geteilt werden; und da sie es
nicht ganz mit mir genießen kann, so ist sie es zufrieden, daß ich mit
der Hälfte meine Freiheit von ihr erkaufen darf. Ich erwarte alle
Stunden die letzten Nachrichten in dieser Sache, deren Verzögerung
allein unsern hiesigen Aufenthalt so langwierig gemacht hat. Sobald ich
sie bekommen habe, wollen wir keinen Augenblick länger hier
verweilen. Wir wollen sogleich, liebste Miß, nach Frankreich
übergehen, wo Sie neue Freunde finden sollen, die sich itzt schon auf
das Vergnügen, Sie zu sehen und Sie zu lieben, freuen. Und diese
neuen Freunde sollen die Zeugen unserer Verbindung sein--
Sara. Diese sollen die Zeugen unserer Verbindung sein?--Grausamer!
so soll diese Verbindung nicht in meinem Vaterlande geschehen? So
soll ich mein Vaterland als eine Verbrecherin verlassen? Und als eine
solche, glauben Sie, würde ich Mut genug haben, mich der See zu
vertrauen? Dessen Herz muß ruhiger oder muß ruchloser sein als
meines, welcher nur einen Augenblick zwischen sich und dem
Verderben mit Gleichgültigkeit nichts als ein schwankendes Brett
sehen kann. In jeder Welle, die an unser Schiff schlüge, würde mir der
Tod entgegenrauschen; jeder Wind würde mir von den väterlichen
Küsten Verwünschungen nachbrausen, und der kleinste Sturm würde
mich ein Blutgericht über mein Haupt zu sein dünken.--Nein, Mellefont,
so ein Barbar können Sie gegen mich nicht sein. Wenn ich noch das
Ende Ihres Vergleichs erlebe, so muß es Ihnen auf einen Tag nicht
ankommen, den wir hier länger zubringen. Es muß dieses der Tag sein,
an dem Sie mich die Martern aller hier verweinten Tage vergessen
lehren. Es muß dieses der heilige Tag sein--Ach! welcher wird es denn
endlich sein?
Mellefont. Aber überlegen Sie denn nicht, Miß, daß unserer
Verbindung hier diejenige Feier fehlen würde, die wir ihr zu geben
schuldig sind?
Sara. Eine heilige Handlung wird durch das Feierliche nicht kräftiger.
Mellefont. Allein--
Sara. Ich erstaune. Sie wollen doch wohl nicht auf einem so nichtigen
Vorwande bestehen? O Mellefont, Mellefont! wenn ich mir es nicht
zum unverbrüchlichsten Gesetze gemacht hätte, niemals an der
Aufrichtigkeit Ihrer Liebe zu zweifeln, so würde mir dieser Umstand--
Doch schon zuviel; es möchte scheinen, als hätte ich eben itzt daran
gezweifelt.
Mellefont. Der erste Augenblick Ihres Zweifels müsse der letzte meines
Lebens sein! Ach, Sara, womit habe ich es verdient, daß Sie mir auch
nur die Möglichkeit desselben voraussehen lassen? Es ist wahr, die
Geständnisse, die ich Ihnen von meinen ehemaligen Ausschweifungen
abzulegen kein Bedenken getragen habe, können mir keine Ehre
machen: aber Vertrauen sollten sie mir doch erwecken. Eine
buhlerische Marwood führte mich in ihren Stricken, weil ich das für sie
empfand, was so oft für Liebe gehalten wird und es doch so selten
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