Memoiren einer Sozialistin | Page 3

Lily Braun
der Ethischen Gesellschaft festhielt:
sich offiziell keiner Partei anzuschließen. Wir gerieten während der
Eisenbahnfahrt nach London in eine eifrige Debatte.
»Grade Menschen wie wir können für die Verbreitung der Ideen des
Sozialismus außerhalb der politischen Organisation weit mehr und
nachhaltiger wirken, als wenn wir ihre eingetriebenen Mitglieder

wären,« sagte er. »Wir verzetteln und verzehren unsere Kräfte nicht im
Kleinkram des Parteilebens, wir finden Gehör, wo wir sonst von
vornherein auf Mißtrauen stoßen würden.«
»Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir mit geschlossenem
Visier kämpfen und unsere Überzeugungen durch Hintertüren in die
Häuser tragen?« rief ich. »Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling
und ein Betrüger!«
Er lenkte ein: »Sie mögen in Deutschland, wo der ganze Sozialismus
sich in der Partei konzentriert, zu dieser Empfindung ein Recht haben,
bei uns gibt es nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur
annähernd ähnlich wäre. Wir sind viel zu individualistisch, um uns
herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie werden daher unseren
Sozialismus und seine Ausbreitung nicht nach dem Dutzend kleiner
Vereine beurteilen müssen, sondern nach den Scharen freier Sozialisten,
die in allen Gesellschaftsschichten zu finden sind.«
Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verhältnisse fiel mir
plötzlich schwer aufs Gewissen. Ich ließ meinen Begleiter erzählen, der
sich, wie es schien, gern reden hörte, und warf nur hie und da eine
Frage dazwischen, um seinen Redefluß auf die von mir gewünschten
Bahnen zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder reihte sich vor mir
auf: von der Ethischen Gesellschaft an, deren Sprecher er war, bis zu
den politischen Kämpfen zwischen der konservativ-unionistischen
Koalition gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt. Ich war
ganz benommen, als wir uns London näherten.
Einzelne Häuser tauchten auf, grau, nüchtern, mit trüben
Fensterscheiben und dünnen schwarzen Schornsteinen; sie schoben sich
rechts und links zusammen, enger und enger, sie verdrängten
schließlich das letzte Streifchen grünen Rasens; schmal, feuchtglänzend
wie Riesenwürmer, wanden sich unten die Straßen zwischen den
Mauern. Ein schmutzig-grauer Nebel umhüllte alles, nicht wie ein
Schleier, der phantastische Vorstellungen von dahinter verborgener
Schönheit zu wecken vermag, -- wie ein nasses Tuch vielmehr, das die
Häßlichkeit der Formen betont und jede Farbe verwischt, die sie
mildern könnte. In der Bahnhofshalle brannten die Bogenlampen, sie

wirkten wie flackernde Öllämpchen im Dunkel eines Kohlenbergwerks.
Wir fuhren durch die Stadt: leichte Wagen und schwerfällige
Omnibusse, Reiter und Radler schoben und drängten sich hin und her,
kein Fußbreit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den Bürgersteigen
daneben hasteten die Fußgänger; gleichgültig, nur auf das eigene
Vorwärtskommen bedacht, ohne einen Blick nach rechts und links.
Selbst die Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da war
keiner, der Zeit hatte --, unsichtbar schienen in der Menge die
Fronvögte der grausamen Herrin Arbeit ihre Geißeln zu schwingen.
Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur für das
kommende Leben?!
»Westminster! -- das Parlament,« hörte ich meinen Begleiter sagen. Ich
blickte auf. An einem Palast mit gotischen Türmen und Fenstern fuhr
der Wagen langsam vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter
hohen Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden Strom.
Schüchterne Sonnenstrahlen brachen durch den Nebel, leuchteten durch
das feine gotische Maßwerk, blitzten auf den Turmknäufen, sprangen
hinüber zu der altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenster
aufglühen, als stünde sie im Feuer.
Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem Parlament, einfach
und still wie eine Dorfstraße, nahm uns auf. Wir waren am Ziel.
Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes Haus den
Besuchern des Frauenkongresses zur Verfügung gestellt. Sie empfingen
mich so herzlich, als wären wir alte Freunde. Man versammelte sich
grade zum Frühstück. Warum waren die Leute nur alle so feierlich?
Selbst Stratford legte das Gesicht in würdevolle Falten, -- fünf
himmelblau gekleidete Dienstmädchen traten ein, -- ein Harmonium
ertönte, -- helle Stimmen sangen einen Choral. Dann las der Hausherr
mit dem Tonfall katholischer Priester einen Bibelabschnitt, -- ein Gebet
folgte. Alles kniete nieder, den Kopf in den Händen vergraben, -- auch
Stratford, Georgs Freund, der Atheist. Ich fühlte, wie ich rot wurde vor
innerem Zorn; ich allein blieb stehen.
»Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als er sich verabschiedete.

»Es ist ja nur eine Form!«
»Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir die Sache
erhalten!«
* * * * *
Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen Empfang der
ausländischen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter
Mädchen, mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Brust,
bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht
war der Riesenraum getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten
und dufteten rings umher. In großer Toilette erschienen die
Delegiertinnen, bei jeder Eintretenden ging ihr Name flüsternd von
Mund zu Mund. Und wie sie bekannt waren, so kannten sie sich
untereinander und begrüßten sich wie alte Kriegskameraden. Ich kam
allein in meinem schwarzen Trauerkleid, über das der Witwenschleier
schwer herunterfiel. Es war ein leerer Raum um mich, als
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