Memoiren einer Sozialistin | Page 2

Lily Braun
dem Arzt im Komplott,« hatte sie mit stockender Stimme
gesagt, während die Tränen ihr unaufhaltsam über die Wangen liefen,
»er verbietet Papa, auszugehen. So liest er wenigstens im Kasino die
Zeitungen nicht. Und die Post wird dem Briefboten an der Hintertreppe
abgenommen ... Ach, Alix, -- du weißt nicht, wie gräßlich es zu Hause
ist .. Ich muß Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und
Mama nicht zu sehr quält .. Am liebsten liefe ich selber davon ...«
Zu Tisch war ich dann mit ihr zu den Eltern gegangen.
Meines Vaters Anblick hatte mich erschüttert.
»Kommst du wirklich noch zu einer halben Leiche?!« hatte er bitter
lachend gesagt. »Ihr könnt's ja wohl gar nicht erwarten, daß eine ganze
draus wird. Herr Gott, -- wie hübsch könntet ihr dann eurem Vergnügen
leben!«
Mama begleitete mich nach Hause: »Habe den Mut, ihm deinen
Entschluß ins Gesicht zu sagen! -- So einen Brief schreiben und alle
Folgen auf Mutter und Schwester abwälzen, -- das ist freilich eine
Heldentat, die dir ähnlich steht!«
Abends war Frau Vanselow noch gekommen, -- tief bekümmert. »Ich
verstehe Ihren Entschluß, -- wenn ich so jung wäre wie Sie, ich täte
dasselbe --, aber das hindert mich nicht, ihn schmerzlich zu bedauern.
Unsere 'Frauenfrage' ist nichts ohne Sie. Und darum bitte ich Sie recht
herzlich: wenn ich schon die Mitredakteurin verlieren soll, so doch
wenigstens nicht die Mitarbeiterin. Mehr als je können Sie jetzt für die
Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.« Und dann hatte sie mir
die Einladung zum Internationalen Frauenkongreß nach London
vorgelesen, die auf unser beider Namen lautete. »Wie viel könnten

gerade Sie, meine liebe, junge Freundin, dort lernen und leisten --
England, das klassische Land der Frauenemanzipation ...!«
In der Nacht kämpfte ich einen schweren Kampf. Meine
Überzeugungen, meine Zukunftsträume, meine Hoffnungen standen
alle bis an die Zähne gewappnet auf wider mich.
Sehr langsam, sehr müde schlich ich am Tage darauf zu den Eltern.
Noch nie war mir der Flur, in dem auch heute, an einem strahlenden
Frühsommertage, das kleine Lämpchen brannte, so eng, so dunkel
vorgekommen und die Zimmer mit ihren schweren Vorhängen so kalt.
Rasch, wie ein Schulmädchen, das den eingelernten Vers
herunterhaspelt, um nur nicht stecken zu bleiben, erzählte ich von der
Einladung nach England.
»Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mit Frau Vanselow
hinüberreisen. Ich kann dabei viel gewinnen. Die englische
Frauenbewegung ist uns weit voraus, die ganze soziale Hilfstätigkeit ist
glänzend organisiert, -- ich werde mir für meine eigene Arbeit ein
Muster nehmen können. In schlechte Gesellschaft komme ich auch
nicht,« hatte ich mit erzwungenem Lächeln hinzugefügt, »denn
Gräfinnen und Herzoginnen sind unsere Gastgeber ...«
Mama verstand. Sie strahlte. Klein-Ilschen, die sich bei meiner Ankunft
verschüchtert in eine Ecke geflüchtet hatte, sprang auf und wirbelte
lustig im Zimmer umher, der Vater schien förmlich elektrisiert von all
den Aussichten, die sich mir boten. Er studierte das Kursbuch, das
Konversationslexikon und schickte die Minna zum nächsten
Buchhändler, um den neuesten Bädecker von London zu holen.
Immer wieder griff er verstohlen nach meinen Händen und streichelte
sie so sanft, so leise, daß ich den Kampf der Nacht vergaß und nichts
fühlte als seine Liebe.
Die Reisevorbereitungen, der Abschied, -- der Vater hatte sich's nicht
nehmen lassen, mich frühmorgens zur Bahn zu bringen und mir, wie
ein feuriger Liebhaber, einen Strauß blühender Rosen in die Hand zu

drücken, -- die Eisenbahnfahrt in Begleitung von Frau Vanselow und
Frau Schwabach, die unaufhörlich von ihrer Vereinsarbeit sprachen,
hatten mich bis zu diesem Augenblick nicht zu Atem kommen lassen.
Ach, und warum schlief ich nicht jetzt, statt heraufzubeschwören, was
vergangen war, und in schmerzhafter Sehnsucht an den zu denken, den
ich nicht erwecken konnte? Ich sah die Nacht um mich her und die
große Einsamkeit -- war Georg nicht erst jetzt für mich gestorben?
Mich fröstelte; feucht und kalt klebten mir die Kleider am Leibe.
»Ich will schlafen gehen,« murmelte ich ... und die Augen fielen mir
zu .....
* * * * *
Im Morgengrauen lag die Küste Englands vor mir, unfreundlich und
nüchtern. Mit jener unwirschen Rücksichtslosigkeit aller
Unausgeschlafenen hasteten und stießen sich die Schiffspassagiere. Ich
ließ mich schieben, -- es war ja alles so schrecklich gleichgültig.
»Frau von Glyzcinski?!« -- Überrascht sah ich auf. »Mister Stratford?«
-- Der rotblonde Hüne, der mich eben begrüßt hatte, nickte erfreut. Wie
einen Gruß von Georg, so empfand ich seinen Händedruck; er war sein
bester Freund gewesen, seine Schriften, seine Briefe hatten ihn mir wie
ein Echo Georgs erscheinen lassen. Und mit leisem Lächeln mußte ich
der Stunde gedenken, in der mir der Verstorbene gestanden hatte, daß
er zwischen uns den Heiratsvermittler habe spielen wollen, ehe er daran
zu denken wagte, ich könne ihn -- den armen Gelähmten -- jedem
anderen vorziehen.
Stratford war überzeugter Sozialist, wie Georg, nur daß er noch mit
aller Energie an dem Standpunkt
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