Memoiren einer Sozialistin | Page 9

Lily Braun
eine Ausgesto?ene. Drangen aber gar durch die Nacht aus den G?rten rings umher sehns��chtig-s��?e Lieder an mein Ohr, so war mir, als h?tte ich jetzt schon Georgs Verm?chtnis die Treue gebrochen.
* * * * *
Eines Nachmittags -- mein Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu -- trat eine einfache, starkknochige Frau, die wei?en Haare straff aus der Stirn gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine harte, unbehandschuhte Hand entgegen: ?Sie kennen mich wohl nicht mehr?? Ich sprang auf, fast h?tte ich sie in die Arme gezogen: ?Amie Hicks?! Sie haben mir Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch tun, -- gleich jetzt?? Sie lachte verwundert ��ber meinen pl?tzlichen Eifer, aber ich lie? sie nicht los und wir verabredeten zun?chst einen gemeinsamen Besuch im Bureau des Zentralkomitees f��r Frauenarbeit.
Was ich dort kennen lernte, erregte mein h?chstes Interesse: Man hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage der erwerbst?tigen Frauen zu untersuchen und die Resultate zu ver?ffentlichen, gewerkschaftliche Organisationen zu schaffen und zu unterst��tzen, die Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung zu studieren und ihre Weiterentwicklung durch m��ndliche und schriftliche Propaganda zu f?rdern. ?Wir sind gewisserma?en ein Arsenal und liefern der Arbeiterbewegung die Waffen,? sagte mir eine der Leiterinnen; ?und wir schaffen zugleich die M?glichkeit, da? die Frau der beg��terten Kreise die Lage der Arbeiterin kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich der Kenntnisse der b��rgerlichen Frau bedienen kann,? f��gte eine andere hinzu. Der Plan, etwas ?hnliches in Berlin zu gr��nden, reifte in mir: der Arbeiterbewegung Waffen liefern, war mindestens so n��tzlich, als selbst die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde dasselbe, was die Fabier theoretisch leisteten, es w��rde wertvolle Kr?fte in den Dienst des Sozialismus zwingen, -- ihrer selbst fast unbewu?t. Es erm?glichte mir, au?erhalb der Partei f��r die Partei zu wirken. Mit krampfhafter Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme vertiefte ich mich in das Studium meiner Aufgabe. Ich fl��chtete aus den bl��henden G?rten in die engen Stra?en zwischen die geschw?rzten Mauern, wo kein Baum und kein Vogel den Sommer verr?t und seine Glut, die drau?en vor den Toren die Knospen wach k��?t, nichts hervorruft, als ekle D��nste und giftige Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und stiller wurde es auch wieder in mir. Eilig, wie die andern, ohne rechts oder links zu sehen, lief ich durch die Stadt, ��ber klebrige H?fe, steile Treppen hinauf in die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften, zu Besuchen, Sitzungen und Versammlungen. Zahlen, nichts als Zahlen h?rte ich -- neben den Lohntabellen, die Arbeitsstunden und die Wochen der Arbeitslosigkeit --, sie verfolgten mich bis in meine Tr?ume, verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen Augen dichter und dichter zusammen, bis sie nichts waren als ein einziges schwarzes Trauergewand, das Himmel und Erde verh��llte.
?Nun bleibt mir nur noch ��brig, die Illustration zu Ihren Tabellen zu sehen,? sagte ich eines Abends zu Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der Z��ndholzfabrikation -- ihre Kolleginnen -- organisiert hatte. Sie wandte sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die bescheiden im Hintergrund stand. ?Wollen Sie unsere deutsche Freundin heute nacht nach Whitechapel mitnehmen??
Das M?dchen sah mich zweifelnd an: ?Wenn die Dame sich nicht f��rchtet -- und sich entschlie?t, unsere Kleidung anzuziehen.? Ich war nat��rlich zu allem bereit. Ehe wir uns am sp?ten Nachmittag auf den Weg machten, steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupferm��nzen. ?Das hat keinen Zweck,? l?chelte meine Begleiterin, ?es sind ihrer viel zu viele!? Unterwegs erz?hlte sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufh?rlichen Kampf mit Laster und Not, einer st��ndlichen Aufopferung der eigenen Person, und ihr schmales Gesichtchen strahlte dabei wie das ihrer Altersgenossinnen, wenn sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. ?Was f��hrte Sie zu Ihrem Beruf?? frug ich. ?Jesus rief mich!? antwortete sie einfach.
Es fing an zu d?mmern. Die Stra?en schrumpften zusammen, w?hrend die Menschenmassen unheimlich anschwollen. In ihrer Kleidung schienen die Farben mehr und mehr zu erl?schen, und die Unterschiede zwischen Alter und Jugend verwischte ein gleichm??iger Ausdruck, zwischen Leid, Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend. Kinder keuchten mit S?cken beladen ��ber die Gassen -- ?Heimarbeiter?, bemerkte meine Begleiterin lakonisch --, an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen, und w��hlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen im Stra?enkehricht. Ein kleiner Bub mit krummen Beinen wollte sich eben heimlich mit dem gefundenen Rest einer Banane aus dem Kreis der Gef?hrten davon schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein Gesichtchen. Aber schon fielen die anderen wutheulend ��ber ihn her und rissen ihm die fadenscheinigen Lumpen von dem armen rhachitischen K?rper. Er weinte nicht, er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene Banane vom Pflaster abzukratzen, aus seinen verschwollenen Augen traf mich dabei ein Blick voll grenzenloser Verzweiflung.
Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse ein. ?Nehmen Sie sich in acht,? warnte meine Begleiterin, als wir in eines der offenen H?user traten, ?die Treppen haben keine Gel?nder.? Ich tastete mich hinter ihr vorw?rts, w?hrend ein pestilenzialischer Geruch mir den Atem benahm. Wir
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