Memoiren einer Sozialistin | Page 4

Lily Braun
Amerikas und Australiens, die ihrem Geschlecht die H?rs?le der Universit?ten und die Pforten zum Parlament er?ffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt der weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge h?uslichen Lebens formt, schmale, scharf geschnittene Z��ge, wie sie die Welt ihren B��rgern mei?elt; statt des treuen, warmen Blicks, der ��ber Kinderstube und K��chengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, ernsten, leidenschaftdurchfunkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle Abgr��nde sich offenbaren. Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer Besiegten: die dunkel?ugige T��rkin im schimmernden M?rchengewande der Scheherezade, die Abgesandte Indiens, den schlanken braunen Leib in weiche Schleier geh��llt. Stolz erz?hlten die einen von ihren Triumphen, klagend die anderen von ihren Leiden, -- Triumphen auf dem Gebiete des wissenschaftlichen, des sozialen, des politischen Lebens, -- Leiden, hervorgerufen durch sexuelle, soziale und rechtliche Unterdr��ckung, als ob Befreiung und Not ihres Geschlechtes damit ersch?pft w?ren. Immer heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im Traum vor den T��ren dieses gl?nzenden Saales Scharen blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, wie Werkst?tten und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in ihr elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen wurde, und die wei?e brillantengeschm��ckte Hand der Pr?sidentin sich mit einer leise bevormundenden Bewegung auf meine Schultern legte, w?hrend sie von Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten f��r ihre politische Gleichstellung sprach, da wu?te ich, was ich zu sagen hatte.
?Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben und unsere Kleider n?hen, haben mich nicht delegiert, aber ich f��hle mich als ihre Abgesandte und nur als die ihre.?
Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, -- galt er nicht mehr meinem gebrochenen Englisch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? Mit einem Blick voll Geringsch?tzung streifte ich die elegante Zuh?rerschaft. Ich werde euch schon verstummen machen --, dachte ich.
?Ihre Vorsitzende r��hmte mich als die erste deutsche Frau, die in ?ffentlicher Versammlung das Stimmrecht f��r ihr Geschlecht gefordert habe. Ich mu? dieses Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutsche Arbeiterinnen von Ort zu Ort die Fahne der politischen Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, der Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die Frauen der ganzen Welt zu Dank verpflichtet sind: August Bebel.?
Ich hielt unwillk��rlich inne, ich erwartete einen Tumult, statt dessen erhoben sich alle H?nde zu einm��tigem Applaus, und selbst die Damen des Pr?sidiums, unter denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden, l?chelten mir freundlich zu.
Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige ?ltere Frau entgegen. In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten Hand erkannte ich die Arbeiterin. ?Ich bin Sozialdemokratin,? sagte sie, ?und m?chte Sie als Genossin begr��?en.? Auf dem Heimweg begleitete sie mich, und ich gab meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck ��ber das Erlebte. Sie lachte geringsch?tzig. ?Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so gilt das als ganz besonders interessant. Passen Sie auf: man wird sich um Sie rei?en. F��r unsere Sache aber hat das gar keine Bedeutung.? Sie nannte mir ihren Namen -- Amie Hicks -- und ihre Wohnung, fern im ?u?ersten Norden Londons. ?Besuchen Sie mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise f��hren.?
Im Trubel der n?chsten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongre? und seine Veranstaltungen nahmen mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft; nicht nur, um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege zu gehen, mit denen die Sitzungen regelm??ig eingeleitet und geschlossen wurden, sondern auch, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen.
In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft stieg mir das Blut oft siedendhei? in die Schl?fen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir als Witwe eines Universit?tsprofessors freilich bewilligt worden, aber schon vom n?chsten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu erwarten als meine kleine Pension von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den pekuni?ren Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen aufgab. Nun hie? es: arbeiten, zusammenschreiben, was ich zum Leben n?tig hatte. Ich wu?te nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig gerechnet. Wie gut, da? mein Trauerkleid mir wenigstens ersparte, den Luxus der anderen mitzumachen.
Mit Einladungen wurden wir ��bersch��ttet: vom Lord-Major an, der uns mit dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich w��rdevollen Stellung empfing, wetteiferte alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus aufs Land f��hrten uns Extraz��ge, -- jenes Land voll r��hrender, weicher Sch?nheit, mit seinen gr��nen, sanft geschwungenen H��geln, seinen dunklen Buchengruppen und stillen, rosenumsponnenen H?usern. Fast unmerklich f��r Auge und Sinn geht die freie Natur in den Blumengarten, in den Schlo?park ��ber, nicht wie bei uns, wo die ihr mit allen Mitteln m��hsam aufgezwungene Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger Reichtum neben d��rrer Armut. Und in die H?user Londons waren wir geladen, die, wie Menschen von alter Kultur, nach au?en die gleichf?rmige, oft langweilig wirkende Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem sich die Pforten ?ffnen, den ganzen inneren Reichtum individuellen Lebens zeigen. Berlin und die Berliner fielen mir dabei ein, wo Fassaden und Kleider, um Originalit?t vorzut?uschen, einander
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