Memoiren einer Sozialistin | Page 3

Lily Braun
zu sein.
Um diese Zeit lernte er Ilse Golzow kennen, und alles, was an
Liebessehnsucht in seiner Seele gelebt hatte von klein auf, brach
ungestüm hervor. Das Weib war ihm unbekannt geblieben bis dahin;
die Arbeit hatte ihn taub und blind gemacht, und eine angeborene
Reinheit der Gesinnung hatte ihn das Gemeine stets als gemein
empfinden lassen. So vereinte sich in der ersten Liebe des
Achtundzwanzigjährigen die volle phantastische Schwärmerei des
Jünglings mit der tiefen Neigung des reifen Mannes. Die Erfüllung
alles dessen, was er in seinen stillsten Stunden für sich an Glück
erträumt hatte, erwartete er von dem Besitz dieses holden blonden
Mädchens. Daß ihm dies Glück nicht kampflos in den Schoß fiel,
erhöhte nur seinen Wert für ihn.

Um ihretwillen vertauschte er seine Studierstube mit dem Ballsaal; er
entwickelte gesellige Talente, die bisher niemand in ihm vermutet hatte,
er wurde das belebende Element aller großen und kleinen Feste. Auf
dem Wege zwischen Königsberg und Pirgallen ritt er sein Pferd fast zu
Schanden, das er sich endlich als Regimentsadjutant halten konnte, und
auf den Schnitzeljagden stellte er durch seine Reiterkunst sämtliche
Kürassierleutnants in den Schatten. Ein instinktives Verständnis für die
weibliche Natur lehrte ihn, daß Mädchen, wie die schöne Ilse, durch die
Bewunderung, die man ihnen abnötigt, am sichersten zu gewinnen sind.
Von dem Vater der Geliebten aber mußte er sich eine zweimalige
Ablehnung gefallen lassen; erst als er zum drittenmal wieder kam und
die Tränen Ilsens sich mit seinen Bitten vereinigten, während ihre
Mutter alle Gründe der Liebe und der Vernunft zu seinen Gunsten zur
Geltung brachte, hieß er ihn -- mit aller Reserviertheit des
Bezwungenen, nicht des Überzeugten -- als Schwiegersohn
willkommen.
An einem Maiensonntag des Jahres 1863 fand die Trauung des jungen
Paares in der alten Pirgallener Dorfkirche statt. Als »Burg des
Christengottes«, so erzählt die Sage, galt sie einst dem heidnischen
Volk, und an eine Burg mehr als an eine Kirche erinnern noch heut die
aus ungefügen Steinblöcken zusammengesetzten Mauern und der
viereckige Turm mit den kleinen Fenstern, den dichter Efeu fast ganz
überwucherte. Die dämmerige Halle verstärkte diesen Eindruck: vor
dem Zeichen des Speeres, dem Wappenbilde der Golzows, verschwand
fast das des Kreuzes, und statt der Bilder des Heilands und der Apostel
reihte sich ein Grabstein neben dem andern an den Wänden, mit
Ritterhelmen und Schwertern geschmückt, oder mit steinernen
Bildnissen, die alle denselben Typus ostdeutschen Adels aufwiesen, ob
ihr Antlitz mit den regelmäßigen, etwas leblosen Zügen und den
hochmütig geschürzten Lippen nun unter dem Stechhelm oder der
Allongeperücke hervorsah. Auf den Grabsteinen der Frauen erzählten
die Doppelwappen, wie selten nur die ritterbürtige Ahnenreihe
unterbrochen worden war. Und daß sie alle zu einem Geschlechte
gehörten: diese stummen Zeugen der Hochzeit Ilsens und die vielen
derer von Golzow, die sich in der alten Kirche zusammenfanden, -- das
bewiesen diese schlanken Menschen mit den schmalen Handgelenken

und den langen spitzen Fingern, die an harte Arbeit nie gewöhnt
gewesen waren. Nur daß die Kraft der Ahnen sich in lässige Grazie
verwandelt und ihre rassige Vornehmheit einen leisen Schein müder
Dekadenz angenommen hatte.
Auch des Bräutigams Verwandte waren vollzählig erschienen. Sie
hatten sich die Teilnahme an dem Familienfest um so weniger entgehen
lassen, als Hans Kleves Heirat die Mesallianz seines Vaters
verschmerzen ließ. Von anderem Schlag waren sie als die Golzows:
Das Blut fahrender Landsknechte und alt-nürnberger Patrizier mischte
sich in ihren Adern, und breit, groß und stämmig waren ihre Gestalten.
Die Kniehosen und Wadenstrümpfe ihres bayerischen Berglands ließen
ihnen besser, als Frack und Zylinder, und seltsam stach vor allem des
Bräutigams üppige rotblonde Schwester Klotilde ab gegen die zarte
Elfengestalt seiner Braut.
Als Menschen eigner Art jedoch, nicht als bloße Glieder einer Familie,
traten zwei Erscheinungen aus dem großen Kreise hervor: die Mütter
des jungen Paares waren es. Das Leben hatte sie beide auf seine Höhen
geführt und in seine Abgründe hineingerissen, sie waren von ihm
gezeichnet; die eine -- das Königskind, das Kind der Liebe --, um deren
hohe Gestalt das Samtgewand wie ein Krönungsmantel niederfloß,
deren schwermütig-dunkle Augen Geist und Güte strahlten, -- die
andere --, ein Kind des Volkes und der Arbeit, die sich nicht zu Hause
fühlte in dem schwarzen Seidenkleid, deren harte Hände von zähem
Fleiße, deren durchfurchte Züge von eiserner Willenskraft sprachen,
und in deren braunen Augen doch der kecke Humor noch lachte, der
über alles Ungemach hinweghilft.
Königsberg, die Garnison meines Vaters, als er heiratete, war mit dem
raschen Golzowschen Gespann von Pirgallen aus in drei Stunden zu
erreichen. Es war daher für die Tochter kein Abschied von zu Hause,
der den Schmerz langer Trennung in sich birgt. Ja, sie blieb im Grunde
daheim, denn im alten Stadthaus ihrer Eltern wurde dem jungen Paare
die Wohnung eingerichtet.
Während es auf der Hochzeitsreise war, schmückte die Großmutter das
künftige Nest ihrer Kinder. All ihren Geschmack, all ihre Träume und

Gedanken über die Schönheit, Harmonie
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