Mein Weg als Deutscher und Jude | Page 6

Jakob Wasserman
nicht mitteilbar war. Vermutlich war meine Verfassung die: ich wu?te, da? Unerh?rtes oder Merkw��rdiges mit mir, an mir, in mir geschah, war aber durchaus nicht imstande, mir oder anderen davon Rechenschaft zu geben. Ich war gewisserma?en ein Moses, der vom Berge Sinai kommt, aber vergessen hat, was er dort erblickt, und was Gott mit ihm geredet hat. Noch heute w��?te ich nicht im geringsten zu sagen, worin eigentlich dies Verborgene, verborgen Flammende, geheimnisvoll Jenseitige bestanden hat; ich mu? es f��r ewig unerforschbar halten, trotzdem es mir lockend erscheint, einiges davon zu ergr��nden; es m��?te dann auch zu ergr��nden sein, was zu den Ahnen geh?rt und was zur Erde, was vom Blute kam und was vom Auge, und aus welcher Tiefe das Individuum in den ihm gewiesenen Kreis emporw?chst.
Mit der Darstellung dieser K?mpfe und Exaltationen ist ein Verh?ltnis zum Wort bereits angedeutet und seine Entstehung aus der Not und Notwendigkeit heraus zu erkl?ren. Und wie sehr das Wort Surrogat und Behelf ist, erweist sich in meinem Fall nicht minder offensichtlich, da doch das Ding und Sein, worauf es sich bezog, unbekannt geworden und hinter nicht zu entriegelnder Pforte lag. Ich glaube, da? alle Sch?pfung von Bild und Form auf einen solchen Proze? zur��ckzuf��hren ist. Ich glaube, da? alle Produktion im Grunde der Versuch einer Reproduktion ist, Ann?herung an Geschautes, Geh?rtes, Gef��hltes, das durch einen jenseitigen Trakt des Bewu?tseins gegangen ist und in St��cken, Tr��mmern und Fragmenten ausgegraben werden mu?. Ich wenigstens habe mein Geschaffenes zeitlebens nie als etwas anderes betrachtet, das sogenannte Schaffen selbst nie anders als das ununterbrochene schmerzliche Bem��hen eines manischen Schatzgr?bers.
Doch: Kunde zu geben, davon hing f��r mich alles ab, schon im fr��hesten Alter. Obgleich die entschwundenen Gesichte mich stumm, geblendet und mit Vergessen geschlagen in die niedrige Wirklichkeit verstie?en, wollte ich doch Kunde geben, denn trotz ihrer Ungreifbarkeit war ich bis zum Rande von ihnen gef��llt. Bereits als Knabe von sieben oder acht Jahren geriet ich zuzeiten, meine gewohnte Scheu und Schweigsamkeit ��berwindend, in zusammenhangloses Erz?hlen, das von Angeh?rigen, von Hausgenossen und Mitsch��lern als halb gef?hrliches, halb l?cherliches L��genwesen aufgenommen und dem mit Zurechtweisung, Spott und Z��chtigung begegnet wurde. An Winterabenden halfen wir Kinder oft der Mutter beim Linsenlesen, und es kam vor, da? ich dabei pl?tzlich zu phantasieren anfing, in den Linsenhaufen hinein Schrecken, Unbill und Abenteuer dichtete, Gespenstergraus und Wunder, harmlose Nachbarn als Zeugen sonderbarer Begegnungen anf��hrte, mir selbst die h?chsten Ehren, h?chsten Ruhm prophezeite. Die Mutter, ihre Arbeit ruhen lassend, schaute mich ?ngstlich verwundert an, ein Blick, der mich noch trotziger in das unsinnig Verworrene trieb. Nicht selten nahm sie mich beiseite und beschwor mich mit Tr?nen, da? ich nicht der Schlechtigkeit verfallen m?ge.
Wie ich aber aus eigenem Antrieb und wiederum durch eine Not zum Erz?hler von Geschichten mit handelnden Figuren und geschlossener Fabel wurde, mu? ich festhalten, weil es weit ��ber den kindlichen Bezirk hinaus auf meinen Weg, auf meine Wurzeln wies.
Die zweite Frau meines Vaters war uns Kindern aus erster Ehe nicht wohlgesinnt und lie? uns ihre Abneigung auf jede Weise sp��ren. Abgesehen von ungerechten und ��berharten Z��chtigungen, steten Klagen, die sie vor dem Vater f��hrte, schr?nkte sie die Nahrung aufs ?u?erste ein, versah die Brotlaibe mit Zeichen, so da? sie erkennen konnte, wenn einer von uns sich zu Unrecht ein St��ck abgeschnitten hatte, und trug Sorge, da? das Vergehen schwer bestraft wurde. Freilich hatte sie M��he, mit dem ihr zugeteilten Gelde zu wirtschaften, so wie mein Vater M��he hatte, es aufzubringen; desungeachtet glaube ich, da? die Kinder von Bettlern es in dieser Hinsicht besser hatten. Als nun mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, ein wohlhabender Mann, der in Wien als Fabrikant lebte, erfuhr, wie ��bel es uns erging, deponierte er bei einem Bekannten in der Stadt eine gewisse Summe f��r die Bestreitung dringender Auslagen, und ich als ?ltester erhielt w?chentlich eine Mark mit der Erlaubnis, daf��r E?waren f��r mich und meine Geschwister zu kaufen. Es war eine bedeutende Summe in meinen Augen, und da es zu gef?hrlich war, das Geld bei mir zu tragen, war ich bem��ht, ein Versteck ausfindig zu machen. Mein Bruder nun, der um f��nf Jahre j��nger war als ich, also ungef?hr sechs, hatte keinen andern Gedanken, als dieses Versteck zu ersp?hen, denn er war unzufrieden mit der Verteilung, mi?traute mir, verlangte bei jedem Anla? mehr, als ich ihm bewilligte, und bestand darauf, da? ich ihm zeige, wieviel ich besa?. War der Zank einmal im Gang, so artete er gew?hnlich bis zu Drohungen aus, und ich mu?te t?glich gew?rtig sein, da? der gierige Rebell mich bei der Stiefmutter denunzierte, eine Verr?terei, deren Folgen ich mehr als alles f��rchtete. Insofern war mein Bruder im Recht, als ich nicht den ganzen, mir zugewiesenen Betrag f��r Brot, Obst, Wurst und K?se ausgab, sondern mir au?erdem noch billige B��cher anschaffte, die ich heimlich und hastig verschlang. Mein Bruder und ich schliefen in
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