Mein Weg als Deutscher und Jude | Page 9

Jakob Wasserman
war unhaltbar geworden. Ich
entsprach den Erwartungen nicht. Ich zeigte mich bei der mir
zugewiesenen Arbeit lustlos und unverläßlich, entschlüpfte bei jeder
Gelegenheit dem starren Kreis, um im Verborgenen einer Neigung zu
frönen, die für befremdlich, schädlich, ja verbrecherisch geachtet wurde;
die Tage verbrachte ich in einer verworrenen, ja somnambulen
Gemütsverfassung, die Nächte, oft bis zum Morgengrauen, fiebernd,
berauscht, entselbstet vor meinen Manuskripten. Daß ich da lauter
leeres Stroh drosch, ist nicht zu bezweifeln, aber es handelt sich in
solchen Epochen der Entwicklung weniger um Qualität als um
Intensität. Die Folgen waren häusliche Auseinandersetzungen,
Vorwürfe der Undankbarkeit, Besserungsversuche, Strafmandate,
Predigten, Hohn. Daß in meinem abirrenden Treiben irgend Vernunft
und Zukunft liegen könne, von der Möglichkeit des Broterwerbs zu
schweigen, wurde gar nicht erwogen; mein Onkel, ein gütiger,
einfacher, obwohl schwacher Mensch, Einflüssen ausgesetzt, die ihm
mein Bild verzerrten, Arbeits- und Erwerbssklave, drohte, mich mit
Schimpf davonzujagen, und allerdings mußte es mir als das Schlimmste
erscheinen, meinem Vater wieder zur Last zu fallen, oder, wie es später
auch kam, in einer Provinzabgeschiedenheit als Bureauschreiber
meinen Unterhalt zu verdienen.
Es war da ein langjähriger Hausarzt, zugleich Hausfreund, der eine
eigentümliche geistige Ähnlichkeit mit meinem Freund hatte. Scharfer
Kopf, scharfes Auge, skeptischer Verstand, literarisch unterrichtet,
gleichfalls Jude, war er wie das Ebenbild von jenem aus älterer
Generation, nur daß er mehr Welt und mehr Bonhomie besaß. Derselbe
Typus heute hat überhaupt nichts mehr von der Welt und Bonhomie. Es
kann bei oberflächlichem Urteil bedünken, als hätte der Typus an
Positivität des Geistes gewonnen, was er an Gutmütigkeit und Schliff
verloren hat. Aber das ist nur Schein. Zieht man die Hülle weg, so steht
ein Leugner da, jetzt wie vordem, ein Entgötterter, ein Opportunist aus

still nagender Verzweiflung, deren Wesen ihm freilich selber
unbekannt ist. Seltsam, mit der nämlichen Rückhaltlosigkeit wie an den
jungen Mann schloß ich mich an den älteren an, um in genau der
nämlichen Art enttäuscht zu werden. Die spezifisch jüdische Form von
Weltklugheit ist mir im Laufe meines Lebens vielfach verhängnisvoll
geworden, weil ich mit völlig anders eingestellten Sinnen unvermögend
war, die praktischen Nutz- und Nahzwecke auch nur wahrzunehmen,
dabei aber mit der äußeren Verantwortung häufig, mit der inneren
immer beladen wurde.
Die Beweise meines Talents, die ich dem Arzt lieferte, wurden von ihm
verworfen und verlacht, waren dann auch in Gesellschaft das Ziel
seiner geistreichen Sticheleien. Doch ließ er sich zu Besprechungen mit
mir herbei und gab mir den Rat, zu studieren. Die Frage war nur, ob der
Onkel die Mittel dazu bewilligen würde, und er versprach, ihn dazu zu
überreden. Indessen wandte ich mich, bezaubert von der neuen
Aussicht, an meinen Freund in München, schilderte ihm, wie die Dinge
lagen, schrieb vorgreifend, daß ich möglicherweise auf die
Unterstützung meines Verwandten zählen könne und fragte, ob er mich
aufnehmen, ob er mir beistehen, mich zum Examen vorbereiten würde.
Die Antwort war über Erwarten herzlich und ermunternd; das Bild
eines gemeinsamen Wirkens und Strebens, das er, der sonst so kühl
abwägende, mir machte, war so verführerisch, daß ich plötzlich die
Geduld verlor, mit dem Onkel und seinen Beratern weiter zu
verhandeln und eines Nachmittags im Mai 1890 heimlich meinen
Koffer packte, auf den Bahnhof ging und mit fünfzig oder sechzig
ersparten Gulden nach München flüchtete.
Ich entsinne mich noch sehr gut der nächtlichen Fahrt im Personenzug,
weil ich mich während ihrer ganzen Dauer in einer Stimmung befand
und ihr gemäß handelte, die nicht oft wiedergekehrt ist in meinem
Leben. Ich saß in einem trüb erleuchteten Wagen dritter Klasse,
zusammen mit etwa dreißig Menschen, Bauern, Kleinbürgern,
Arbeitern, auch Frauen und Mädchen, und vom Beginn der Fahrt an,
die ganze Nacht hindurch, hielt ich die Leute mit ausgelassenen Späßen,
lustigen Geschichten und unbedenklichen Hanswurstiaden in
fortwährendem schallenden Gelächter, in das auch die Schaffner

einfielen. Alle die lachenden, feuchten Augen waren gespannt,
dankbar-entzückt auf mich gerichtet, und ich erinnere mich noch eines
mageren alten Bauern, der vor Lachen förmlich weinte, und einer Frau
mit einem Korb, die mir von Zeit zu Zeit Äpfel zusteckte und meine
Hand tätschelte. Ich hatte Vergnügen daran, zu beobachten, wie die
Traurigkeit, Bitterkeit, Wundheit in mir im selben Maße wuchsen, in
dem ich mein harmloses Publikum zu vermehrtem Beifall hinriß. So
frech in die lebendige Antithese stellt man sich nur unter dem Antrieb
jugendlich-selbstgefälliger, selbstbetrunkener Menschensucht und
Menschenflucht, aber es ist wohl auch eine Empfindung
außerordentlicher Einsamkeit dabei im Spiel gewesen.
Mein Freund, der Student, hatte gehofft, daß der reiche Onkel, den er
respektierte, mich mit Geldmitteln ausgerüstet und mit seinem Segen
hatte ziehen lassen und war natürlich nicht erbaut, als es sich
herausstellte, daß ich von der Krippe weggelaufen sei und um Gnade
erst betteln müsse. Halbgezwungen machte er noch einmal den
Fürsprecher meines unbesonnenen Unternehmens, und es wurde mir
ein sehr geringes Monatsgeld bewilligt, so gering, daß es mich kaum
vor dem Hunger bewahrte und von geregelter Arbeit
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