Mein Leben und Streben | Page 9

Karl May
zum andern, von einem Bauern zum andern. Er brachte immerfort Kaese, Eier und Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde sie nur mit Muehe und Verlusten wieder los. Dieses unstaete [sic], unnuetzliche Leben foerderte nicht, sondern frass das Glueck des Hauses; es frass sogar auch noch die uebrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie haermte sich und hielt still, bis es Suende gewesen waere, weiter zu tragen. Da fasste sie einen Entschluss und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle viel, viel vernuenftiger als damals gegen unsere Froesche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, dass sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten muesse. Sie verriet ihm, dass sie ausser den bisher erwaehnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr Stadtrichter solle doch die Guete haben, ihr zu sagen, wie sie dieses Geld anlegen koenne, um sich und ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er oeffnete ihn und zaehlte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob grosses Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte er: "Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe fuer Sie ein. Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine juengere. Sie gehen nach Dresden und werden fuer dieses Ihr Geld Hebamme. Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurueck, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so koennen wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich haette mit ihm zu reden!"
Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten Zensur zurueck, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt. Waehrend ihrer Abwesenheit fuehrte Vater mit Grossmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit fuer uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir Kinder lagen alle krank. Grossmutter tat fast ueber Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen unfoermigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren vollstaendig verschwunden. Der Arzt musste durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einfloessen zu koennen. Sie lebt heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte.
Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz vorueber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden grosses Glueck. Sie hatte sich durch ihren Fleiss und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben erzaehlt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah nun jetzt, und zwar mit ganz ueberraschendem Erfolge. Ich lernte sehen und kehrte, auch im uebrigen gesundend, heim. Aber das Alles hatte grosse, grosse Opfer gefordert, freilich nur fuer unsere armen Verhaeltnisse gross. Wir mussten um all der noetigen Ausgaben willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Noetigste zu decken. Wir zogen zur Miete. -- --
Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und groessten Einfluss auf meine Entwicklung ausgeuebt hat. Waehrend die Mutter unserer Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die "Hohensteiner Grossmutter" genannt wurde, stammte die Mutter meines Vaters aus Ernsttal und musste sich darum als "Ernsttaler Grossmutter" bezeichnen lassen. Diese Letztere war ein ganz eigenartiges, tiefgruendiges, edles und, fast moechte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von Jugend auf ein herzliebes, beglueckendes Raetsel, aus dessen Tiefen ich schoepfen durfte, ohne es jemals ausschoepfen zu koennen. Woher hatte sie das Alles? Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige Psychologie weiss, was das zu bedeuten hat. Sie war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erloesung sehnenden Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter frueh verloren und einen Vater zu ernaehren, der weder stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu Traenen ruehrender Aufopferung. Die Armut erlaubte ihr
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