Kritik der reinen Vernunft (2nd edition) | Page 6

Immanuel Kant
zum Grunde liegen, mit
ihren genugtuenden Beweisen versehen, welches beides nach der
bisherigen Verfahrungsart unmöglich war. Aber es ergibt sich aus
dieser Deduktion unseres Vermögens a priori zu erkennen, im ersten
Teile der Metaphysik ein befremdliches und dem ganzen Zwecke
derselben, der den zweiten Teil beschäftigt, dem Anscheine nach sehr
nachteiliges Resultat, nämlich daß wir mit ihm nie über die Grenze
möglicher Erfahrung hinauskommen können, welches doch gerade die
wesentlichste Angelegenheit dieser Wissenschaft ist. Aber hierin liegt
eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats
jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori, daß sie
nämlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen
zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse. Denn
das, was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller
Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die
Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht
zu allem Bedingten, und dadurch die Reihe der Bedingungen als
vollendet verlangt. Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere
Erfahrungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an
sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht
werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der
Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als
Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als
Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart, der
Widerspruch wegfalle; und daß folglich das Unbedingte nicht an

Dingen, sofern wir sie kennen, (sie uns gegeben werden,) wohl aber an
ihnen, sofern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst,
angetroffen werden müsse: so zeigt sich, daß, was wir Anfangs nur zum
Versuche annahmen, gegründet sei.* Nun bleibt uns immer noch übrig,
nachdem der spekulativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde
des Übersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht
in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transzendenten
Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen, und auf solche Weise,
dem Wunsche der Metaphysik gemäß, über die Grenze aller möglichen
Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht
möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen. Und bei einem solchen
Verfahren hat uns die spekulative Vernunft zu solcher Erweiterung
immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen
mußte, und es bleibt uns also noch unbenommen, ja wir sind gar dazu
durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir
können, auszufüllen.**
* Dieses Experiment der reinen Vernunft hat mit dem der Chemiker,
welches sie manchmal den Versuch der Reduktion, im allgemeinen
aber das synthetische Verfahren nennen, viel Ähnliches. Die Analysis
des Metaphysikers schied die reine Erkenntnis a priori in zwei sehr
ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen, und
dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum
zur Einhelligkeit mit der notwendigen Vernunftidee des Unbedingten
und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene
Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist.
** So verschafften die Zentralgesetze der Bewegung der
Himmelskörper dem, was Kopernikus, anfänglich nur als Hypothese
annahm, ausgemachte Gewißheit und bewiesen zugleich die
unsichtbare, den Weltbau verbindende Kraft (der Newtonischen
Anziehung), welche auf immer unentdeckt geblieben wäre, wenn der
erstere es nicht gewagt hätte, auf eine widersinnische, aber doch wahre
Art, die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenständen des
Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen. Ich stelle in dieser
Vorrede die in der Kritik vorgetragene, jener Hypothese analogische,
Umänderung der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in

der Abhandlung selbst aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen
von Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes, nicht
hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen wird, um nur die ersten
Versuche einer solchen Umänderung, welche allemal hypothetisch sind,
bemerklich zu machen.
In jenem Versuche, das bisherige Verfahren der Metaphysik
umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiele der Geometer
und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen,
besteht nun das Geschäft dieses Kritik der reinen spekulativen Vernunft.
Sie ist ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft
selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben,
sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren
Gliederbau derselben. Denn das hat die reine, spekulative Vernunft
Eigentümliches an sich, daß sie ihr eigen Vermögen, nach
Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objekte zum Denken wählt,
ausmessen, und auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben
vorzulegen, vollständig vorzählen, und so den ganzen Vorriß zu einem
System der Metaphysik verzeichnen kann und soll; weil, was das erste
betrifft, in der Erkenntnis a priori den Objekten nichts beigelegt werden
kann, als was das denkende Subjekt aus sich selbst hernimmt, und, was
das zweite anlangt, sie in Ansehung der Erkenntnisprinzipien eine ganz
abgesonderte, für sich bestehende Einheit ist, in welcher ein jedes Glied,
wie in einem organisierten Körper, um aller anderen und alle um eines
willen da sind, und kein Prinzip mit Sicherheit in einer Beziehung
genommen werden kann, ohne es zugleich in
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