Kritik der reinen Vernunft (2nd edition) | Page 4

Immanuel Kant
Denkart, welche viel wichtiger war, als die Entdeckung
des Weges um das berühmte Vorgebirge, und des Glücklichen, der sie
zustande brachte, ist uns nicht aufbehalten. Doch beweist die Sage,
welche Diogenes der Laertier uns überliefert, der von den kleinsten,
und, nach dem gemeinen Urteil, gar nicht einmal eines Beweises
benötigten, Elementen der geometrischen Demonstrationen den
angeblichen Erfinder nennt, daß das Andenken der Veränderung, die
durch die erste Spur der Entdeckung dieses neuen Weges bewirkt
wurde, den Mathematikern äußerst wichtig geschienen haben müsse,
und dadurch unvergeßlich geworden sei. Dem ersten, der den

gleichseitigen Triangel demonstrierte (er mag nun Thales oder wie man
will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht
dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben
nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern
durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und
darstellte (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und daß er, um
sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse, als
was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in
sie gelegt hat.
Mit der Naturwissenschaft ging es weit langsamer zu, bis sie den
Heeresweg der Wissenschaft traf, denn es sind nur etwa anderthalb
Jahrhunderte, daß der Vorschlag des sinnreichen Baco von Verulam
diese Entdeckung teils veranlaßte, teils, da man bereits auf der Spur
derselben war, mehr belebte, welche eben sowohl durch eine schnell
vorgegangene Revolution der Denkart erklärt werden kann. Ich will
hier nur die Naturwissenschaft, so fern sie auf empirische Prinzipien
gegründet ist, in Erwägung ziehen.
Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst
gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht,
was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich
gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in
Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas
entzog und wiedergab*; so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie
begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem
Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach
beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre
Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am
Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach
keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht
in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft
sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen
allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in
einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in
der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden,
aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt,

was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen
nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat
sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem
Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die
Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr
anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich
selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft
allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da
sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen
gewesen war.
* Ich folge hier nicht genau dem Faden der Geschichte der
Experimentalmethode, deren erste Anfänge auch nicht wohl bekannt
sind.
Der Metaphysik, einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis,
die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt, und zwar durch
bloße Begriffe (nicht wie Mathematik durch Anwendung derselben auf
Anschauung), wo also Vernunft selbst ihr eigener Schüler sein soll, ist
das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen, daß sie den
sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte; ob sie
gleich älter ist, als alle übrige, und bleiben würde, wenn gleich die
übrigen insgesamt in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei
gänzlich verschlungen werden sollten. Denn in ihr gerät die Vernunft
kontinuierlich in Stecken, selbst wenn sie diejenigen Gesetze, welche
die gemeinste Erfahrung bestätigt, (wie sie sich anmaßt) a priori
einsehen will. In ihr muß man unzählige Male den Weg zurück tun,
weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will, und was die
Einhelligkeit ihrer Anhänger in Behauptungen betrifft, so ist sie noch
so weit davon entfernt, daß sie vielmehr ein Kampfplatz ist, der ganz
eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte
zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den
kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften
Besitz gründen können. Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren
bisher ein bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter
bloßen Begriffen, gewesen sei.

Woran liegt es nun, daß hier noch kein sicherer Weg der Wissenschaft
hat gefunden werden können? Ist er etwa unmöglich? Woher hat denn
die Natur
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