Kriegsbüchlein für unsere Kinder | Page 5

Agnes Sapper
Da plötzlich hörte sie eine Stimme: "Nur herein, es geht
schon noch!" Ein starker Arm streckte sich ihr entgegen und ehe sie
wußte, wie es zugegangen, stand sie mit den Kindern eingekeilt in dem
schmalen Gang eines Wagens dritter Klasse, obwohl sie Karten zweiter
Klasse gelöst hatte. Der Zug fuhr ab, eine Menge verzweifelter Leute
zurück lassend. "Gottlob!" rief Frau Lißmann, sie zitterte noch vor
Erregung. "Wo ist denn mein Hut?" fragte Karl, "man hat ihn mir vom
Kopf gerissen!" "Macht nichts," tröstete die Mutter, "das ist der Krieg,
hat der Herr gesagt. Gottlob, daß wir alle drei im Zuge sind. Irgend
jemand hat uns geholfen, sonst wären wir nicht herein gekommen."
"Das war ja der große Soldat, der uns aus dem Leiterwagen gehoben
hat, hast du ihn denn nicht erkannt, Mutter?"
"Nein, ich habe nur einen Arm gesehen, der sich nach uns ausgestreckt
hat. Ich konnte ihm auch gar nicht dafür danken."
Ein Mitreisender hatte das Gespräch gehört, er mischte sich ein: "Da ist
nichts zu danken. Sie sind Deutsche, wir sind Österreicher; wir sind
Verbündete und helfen einander. Ich werde Ihnen jetzt einen Sitzplatz
schaffen" und er nahm seinen Handkoffer und stellte ihn auf den Boden
des Ganges. "So, nun nehmen Sie Platz," sagte er freundlich. "Für das
Töchterl bleibt auch noch ein Eckerl und der Bub, der will doch auch
einmal Soldat werden, der übt sich einstweilen im Stehen."
Langsam fuhr der überfüllte Zug. An jeder Station gab es längeren
Aufenthalt; eine Menge Einberufene drängten noch herein und immer
wurden sie mit fröhlichen, heiteren Zurufen begrüßt. Ein Wiener Zug,
schon voll eingekleideter Soldaten, die ins Feld zogen, fuhr vorbei. Aus
den Güterwagen schauten die Bursche Kopf an Kopf, ihnen wurde
besonders lebhaft zugejubelt. Allerlei Aufschriften, mit Kreide an den
Wagen angeschrieben, bezeugten die fröhliche Stimmung der Krieger.
An einem war zu lesen:
Serbien Du mußt sterbien!
Und unter dem Briefschalter des Postwagens stand: 'Hier werden noch

Kriegserklärungen angenommen.' Unter Lachen und lautem "Heil,
Heil" rufen, fuhr man an dem Zug vorüber.
So verging Stunde um Stunde; immer dumpfer und drückender wurde
es in dem Wagen. Ein kleines Kind schrie unablässig; seine blasse
Mutter entschuldigte sich: sie kam schon aus Italien, fuhr seit zwei
Tagen ununterbrochen. Einer Frau wurde es schlecht; ein Bub stieß des
Vaters volles Bierglas um, das zum Fenster herein gereicht worden war;
klebrig und übelriechend wurde der Boden. Aber niemand klagte--es
war ja Krieg--man mußte sich in alles fügen, mußte froh sein, daß man
überhaupt noch fahren durfte; vom nächsten Tag an wurden nur noch
Soldaten befördert.
Gegen Abend kam man an die Grenzstation: Zoll, neuer Sturm auf
einen ebenso überfüllten Zug.
Wie ein Traum erschien es Frau Lißmann, als sie endlich spät abends in
den Münchner Bahnhof einfuhren. Eingekeilt in die Menge ließen sich
unsere müden Reisenden vom Strom treiben, dem Ausgang zu. Nicht
wie sonst warteten hier die Angehörigen; der Zutritt war für jedermann
gesperrt. Um so dichter stand die Menge an den Ausgangstoren des
Bahnhofgebäudes und hier war es, wo plötzlich eine Stimme, eine liebe,
bekannte, fröhliche Stimme rief: "Mutter, grüß dich Gott, endlich
kommt ihr! Gebt nur euer Gepäck her! Hergeben, Lisbeth, ich trage
alles! Nur her, Karl!"
"Philipp!" riefen sie alle erstaunt, "ja woher hast du denn gewußt, daß
wir jetzt kommen?"
"Einmal habt ihr doch kommen müssen! Siebenmal habe ich euch
schon erwartet, vorgestern, gestern und heute; ganz heimisch bin ich
geworden am Bahnhof. Warum seid ihr so spät gekommen, habt ihr
meinen Brief nicht erhalten?"
"Nein, keinen Brief, auch nicht vom Vater."
"Der Vater kommt morgen. Hat telegraphiert. Auch Ludwig kommt
morgen. Das wird sein, wenn wir erst alle beisammen sind, Mutter.

Jetzt kommt nur heim, ihr seht gar nicht aus, als ob ihr aus der
Sommerfrische kämt. Aber daheim ist schon der Tisch für euch gedeckt.
Nämlich schon seit zwei Tagen."
"Wie bist du denn ins Haus gekommen, es ist doch alles gesperrt?"
"Es gibt ja Schlosser! Ich habe dir alles geschrieben, Mutter, aber es
scheint, die Briefe gehen nicht mehr nach Österreich. Die ganze
Haushaltung habe ich in Gang gebracht, die Kathi herbeigeholt, ihr
werdet staunen. Dürft euch nur aufs Sofa setzen und es euch wohl sein
lassen."
Ja, es wurde ihnen jetzt schon wohl bei der freundlichen Aussicht.
"Aber weißt du, daß Krieg ist?" fragte Karl. Philipp lachte hell auf.
"Besser als du. Wißt ihr schon das Neueste? England hat uns den Krieg
erklärt!"
Die Mutter blieb mitten auf der Straße stehen: "England! Kinder, das ist
ja schrecklich! England auch! England mit den Slaven gegen uns? Ist es
denn amtlich mitgeteilt?"
"Amtlich, an allen Ecken kannst du das Telegramm lesen. Aber Mutter,
nur keine Angst, du wirst sehen, wir werden mit allen fertig. Aber wir
müssen auch alle zusammenhelfen. Jetzt heißes: Alle Mann auf Deck!
Du hast also meinen Brief nicht bekommen? Ich habe dir geschrieben,
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