hier umlernen, wie man in Betreff der Vererbung und des "Angeborenen" umgelernt hat. So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist "Bewusstsein" in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, - das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthsch?tzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth als die "Wahrheit": dergleichen Sch?tzungen k?nnten, bei aller ihrer regulativen Wichtigkeit für uns, doch nur Vordergrunds-Sch?tzungen sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt n?mlich, dass nicht gerade der Mensch das "Maass der Dinge" ist.....
4.
Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenf?rdernd, lebenerhaltend, Arterhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grunds?tzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a priori geh?ren) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine best?ndige F?lschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben k?nnte, - dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens w?re. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gef?hrliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und B?se.
5.
Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb sp?ttisch zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind - wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit - sondern dass es bei ihnen nicht redlich genug zugeht: w?hrend sie allesammt einen grossen und tugendhaften L?rm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich s?mmtlich, als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten, reinen, g?ttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht h?tten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher als sie und t?lpelhafter sind - diese reden von "Inspiration" -): w?hrend im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine "Eingebung", zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt wird: - sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile, die sie "Wahrheiten" taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus übermuth und um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem "kategorischen Imperativ" führen, richtiger verführen - dies Schauspiel macht uns Verw?hnte l?cheln, die wir keine kleine Belustigung darin finden, den feinen Tücken alter Moralisten und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie - "die Liebe zu seiner Weisheit" zuletzt, das Wort richtig und billig ausgelegt - wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese unüberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen würde: - wie viel eigne Schüchternheit und Angreifbarkeit verr?th diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken!
6.
Allm?hlich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: n?mlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erkl?rung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral will es (will er -) hinaus? Ich glaube demgem?ss nicht, dass ein "Trieb zur Erkenntniss" der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als inspirirende Genien (oder D?monen und Kobolde -) ihr Spiel getrieben haben m?gen, wird finden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, - und dass jeder Einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen m?chte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu philosophiren.
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