Jenseits der Schriftkultur, vol 5 | Page 6

Mihai Nadin
charakteristischen Konflikts auftauchen, konstituieren sich Milliarden von Menschen auf unserem Planeten durch eine breite Vielfalt praktischer Erfahrungen. Wir haben sie in den vorausgegangenen Kapiteln eingehend behandelt. Angesichts dieses breiten pragmatischen Spektrums ist es fast unm?glich, die Zukunft der virtuellen Gemeinschaften oder der elektronischen Demokratie auszumalen, ohne naiv oder nachgerade dumm zu erscheinen. Wir wissen, wie weit wir gekommen sind, aber wir wissen nicht genau, wo wir stehen.
Da ich eine umfassendere pragmatische Perspektive anstrebe, w?hle ich einen Ansatz, der ��ber die aktuellen kurzatmigen Argumentationen hinausgeht. Eine These dieses Buch besteht ja darin, da? sich L?sungen nicht aus euphorischer Technologieverherrlichung, aus kultureller Selbstreplikation, aus auf biologischen Mechanismen beruhenden Modellen, aus unfokussierten bionomischen ��berlegungen oder starrsinniger Kapitalismuskritik ergeben werden. Positive L?sungsans?tze, die ��ber die Rhetorik intellektueller Kontroversen und politischer Diskussionen hinausgehen, m��ssen sich aus den positiven Handlungen ergeben, die unsere Identit?t als Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft formen. Die Metapher der interaktiven Zukunft dr��ckt eine einfache These aus: Innerhalb der globalen Skala ist menschliche Interaktion, als konkreter Ausdruck der Einbindung unendlich vielf?ltiger kognitiver Ressourcen, die letzte verf��gbare Ressource, von der die Zukunft unserer Gattung abh?ngen k?nnte.
Das ��berwinden der Schriftkultur
Das ��berwinden der Schriftkultur geschieht in der Praxis eines hocheffizienten Pragmatismus, der der globalen Skala des Menschen entspricht. Diese Skala erfa?t die Bildung menschlicher Gemeinschaften und die Interaktionen zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Wie schon erw?hnt, haben Beduinen in der Sahara und Indianer in den Anden genauso Zugang zum Fernsehen, wie die Menschen in hochtechnologisierten Industrienationen. Die Identit?t von Bev?lkerungsgruppen in weniger entwickelten Gesellschaften ist auf der globalen Landkarte wirtschaftlicher und politischer Verflechtungen bereits zum Zielobjekt hochentwickelter Verarbeitungssysteme geworden. In den B��chern der Weltwirtschaft ist ihre Existenz im Hinblick auf ihre Leistungsf?higkeit, ihre Bed��rfnisse und ihre Kaufkraft genau verzeichnet. Menschen, die im Silicon Valley, in Frankreich, Japan, Israel oder an einem anderen Ort dieses Planeten virtuelle Gemeinschaften bilden, werden mit Hilfe unterschiedlichster Methoden Gegenstand globaler Integration.
Die Ausweitung nicht-schriftgebundener Erfahrungen der Selbstkonstituierung gibt berechtigten Anla? zur Frage nach dem sozialen Status des Individuums und der Natur der Beziehungen und Abh?ngigkeiten in einer Gesellschaft. Kinder werden beispielsweise st?rker mit Bildern konfrontiert als mit Sprache. Sie neigen dazu, Zeit als einen st?ndigen Jetzt-Zustand wahrzunehmen, und sie erwarten, da? Befriedigung, so wie sie es im Fernsehen erleben, augenblicklich eintritt und da? sie so leicht zu erlangen ist wie der Zugang zu einer spannenden Seite im Internet. Sie werden zu Experten f��r interaktive Spiele und f��r die Kontrolle extrem schneller Prozesse. Losgel?st von Kultur und Tradition, sind sie besonders anpassungsf?hig an neue Situationen und bestrebt, eine eigene Form der Unabh?ngigkeit zu finden. Sex, Drogen, Rap-Musik, Zugeh?rigkeit zu Sekten oder Gangs sind Teil ihres widerspr��chlichen Profils. Diese Jugendlichen sind die Piloten in den Nintendo-Kriegen, aber auch die zuk��nftigen Entdecker des Kosmos, die Physiker, Biologen und Gentechniker, die neue Materialien gestalten und Maschinen von atemberaubender Komplexit?t erfinden, bei denen jedes Millionstel einer Sekunde das Ergebnis beeinflu?t. Sie sind die K��nstler und rekordhungrigen Sportler von morgen; sie sind die Programmierer und Designer der Zukunft. Sie werden Dienstleistungen in einem Wirtschaftssystem bereitstellen, das durch seinen schnellen Wandel--wegen der st?ndig wachsenden Nachfrage nach Ressourcen--nicht mehr mit den tr?gen und wenig flexiblen Mitteln der Schriftkultur betrieben wird.
Daten belegen, da? diese Individuen weniger am Leben in der Gemeinschaft interessiert und weniger an ethische Grunds?tze der Vergangenheit gebunden sind. Moralische Absolutismen und Anteilnahme spielen keine gro?e Rolle in diesem Leben, das gepr?gt ist durch praktische Erfahrungen, die zur Selbst?ndigkeit, oft verwechselt mit Unabh?ngigkeit, f��hren sollen. Angesichts all dieser Entwicklungen dr?ngt sich die Frage auf, welche Form die Beziehung zwischen Gemeinschaft und hocheffizienten Individuen, die sich in der Regel in Abkapselung von den anderen entfalten, annehmen wird. Welchen Status wird die Gemeinschaft bekommen?
Heutzutage klagen viele B��rger und Organisationen ��ber die geringe Lebensqualit?t in den urbanen Zentren (in den USA und ��berall auf der Welt), hohe Arbeitslosigkeit und ein Gef��hl der Randexistenz. Einwanderer in vielen verschiedenen Gastl?ndern, Gastarbeiter in der Europ?ischen Union, junge Menschen in Asien, Afrika und den ehemaligen Ostblockstaaten, Minderheiten in den USA, Arbeitslose auf der ganzen Welt--jede dieser Gruppen steht vor Problemen, die sich aus ihrer Andersartigkeit ergeben. Einwanderer sind nicht immer willkommen, und wenn sie aufgenommen werden, wird von ihnen erwartet, da? sie sich anpassen. Gastarbeiter m��ssen Arbeiten verrichten, an denen sich die B��rger des Gastlandes nicht die Finger schmutzig machen m?chten. Die junge Menschen sollen nach M?glichkeit in die Fu?stapfen ihrer Eltern treten. Die Empf?nger von Sozialhilfe sollen sich diese verdienen und jeden angebotenen Arbeitsplatz annehmen. Schriftlichkeit impliziert Erwartungen von Homogenit?t. Einwanderer mu?ten und m��ssen heute noch die Sprache des jeweiligen Gastlandes erlernen, um ganz normale B��rger zu werden. Von Gastarbeitern, definiert durch ihre Funktion auf dem Arbeitsmarkt, erwartet man eine reibungslose R��ckkehr in ihr Heimatland. Jugendliche wurden durch ein einheitliches Bildungssystem geschleust, und Arbeitslose sollten nach einer kurzen Phase der Umschulung von der Maschine Volkswirtschaft wieder geschluckt werden.
Historisch hat sich das Ph?nomen Gemeinschaft folgenderma?en
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