Muster,
umschrieben durch die Selbstkonstituierung im natürlichen und
kulturellen Kontext, sind erst rückwirkend von Bedeutung. Sie
bezeugen das soziale Wesen des Menschen und zeigen, wo der
kulturelle Teil und der natürliche Teil dieses Wesens liegen. Aktive
Teilhabe von Individuen in der Praxis der Sprache bezeugt deren
Bedürfnis, ihre Identität in den erwähnten Beziehungsmustern zu
suchen. Menschen treten nicht deshalb zueinander in Beziehung, weil
das jeweilige Gegenüber ein netter Mensch ist. Der Bezug zum anderen
ist Teil einer ständigen Definition des Individuums in einem Kontext,
der von Konflikt und Kooperation und von der Anerkennung von
Unterschieden und Ähnlichkeiten geprägt ist. Jegliche Dynamik, ob in
der Biologie oder in der Kultur, ergibt sich aus Unterschieden.
Man sieht Sprache als naturgegeben an und stellt ihre Konventionen nie
in Frage. Als eine natürliche, (nach Chomsky) vererbte Eigenschaft
wird Sprache nicht jedes Mal neu erfunden, wenn sich
Selbstkonstituierungen durch Sprache vollziehen. Auch steht ihre
Nützlichkeit niemals in Frage, wenn wir ihre Grenzen zu spüren
bekommen. Das Versagen eines Werkzeugs--z. B. wenn es für eine
bestimmte Aufgabe ungeeignet ist--legt nahe, ein neues Werkzeug zu
entwickeln. Das Versagen von Sprache hingegen deutet auf Grenzen
der menschlichen Erfahrung hin, nicht auf die des Werkzeugs.
Funktionsstörungen der Sprache verweisen auf die biologische Anlage
und die Art und Weise, wie sie durch das menschliche Handeln auf die
Realität projiziert wird. Dies gilt nicht für andere, weniger natürliche
Zeichensysteme: Symbole, künstliche Sprachen, Meta-Sprachen.
Was sich von einer Skala des Menschen zu einer anderen verändert, ist
der Koeffizient der linearen Gleichung, nicht die Linearität als solche.
Eine kleine Gruppe von Menschen kann durch Jagen, Sammeln von
Früchten und Landbestellung überleben. Die Anstrengungen, die
notwendig sind, um eine größere Gruppe zu versorgen, wachsen
proportional zur Größe der Gruppe. In jenen Augenblicken der
Entwicklung, in denen eine kritische Masse, eine Schwelle erreicht
wurde (Spracherwerb, Landbewirtschaftung, Schrift, industrielle
Produktion und jetzt die post-industrielle Produktion), verursachten die
Effizienzerwartungen, die der jeweiligen Skala entsprachen,
Veränderungen im pragmatischen Rahmen. Das Bewußtsein eines
Versagens der Sprache entsteht durch Erfahrungen, die neue Sprachen
notwendig machen.
Fehlkommunikation ist dann gegeben, wenn die verwendete Sprache
für die praktische Erfahrung unpassend ist. Ein Mangel an
Kommunikation zeigt die Grenzen der Menschen, die in eine
bestimmte Tätigkeit eingebunden sind. Fehlkommunikation führt dazu,
daß Menschen (sich und andere) fragen, was und warum etwas schief
gelaufen ist und was getan werden kann, um negative Folgen für die
Effektivität ihrer Tätigkeit zu verhindern. Andere Arten der
Fehlfunktion von Sprache können Menschen als Individuen oder als
Mitglieder einer Gemeinschaft auf einer anderen Ebene als der der
Kommunikation betreffen: Das Versagen von politischen Systemen,
Ideologien, Religion(en), Märkten, von Ethik oder Familie drückt sich
im Zusammenbruch menschlicher Beziehungsmuster aus. Wir halten
aber die Sprache dieser politischen Systeme, Ideologien, Religionen
und Märkte selbst nach ihrem Scheitern am Leben; nicht zufällig oder
aus Nachlässigkeit, sondern weil wir selber alle diese Sprachen
sind--als Beteiligte an politischen Prozessen, Objekte ideologischer
Indoktrinierung, Anhänger einer Religion, Güter eines Marktes,
Familienmitglieder oder aufrechte Bürger. Die Ineffizienz dieser
praktischen Erfahrungen spiegelt unsere eigene Ineffizienz wider, die
schwieriger zu überwinden ist als eine Rechtschreibschwäche,
etymologische Ignoranz oder phonetische Taubheit.
Die Mauer hinter der Mauer
Ein gutes Beispiel für die Solidarität zwischen Spracherfahrung und
dem sich durch Sprache konstituierenden Individuum liefert der
Zusammenbruch des osteuropäischen Blocks, und pointierter noch der
Zusammenbruch der Sowjetunion. Niemand hatte damit gerechnet, daß
nach dem Fall der Berliner Mauer die Menschen im östlichen Teil
Deutschlands in diesem System gefangen bleiben würden, obwohl sich
rechtliche, soziale und wirtschaftliche Umstände veränderten. Trotz der
gemeinsamen Sprache blieben die Ostdeutschen Gefangene der
strukturellen Merkmale der alten Gesellschaft, die die Schriftkultur
ihnen aufgeprägt hatte: Zentralismus, klare Trennlinien, Determinismus,
hierarchische Strukturen, begrenzte (Wahl-) Freiheit. Die unsichtbare,
doch wirksame Konditionierung durch die ostdeutsche
Bildung--derjenigen Westdeutschlands kategorisch überlegen--ist der
neuen, in Westdeutschland erreichten Pragmatik unangemessen und
erweist sich als Hürde für die Integration der Ostdeutschen in eine
dynamische Gesellschaft. Die hocheffiziente Pragmatik--verbunden mit
hohen Erwartungen, die die tatsächliche Leistung zu übersteigen
scheinen--wurde den Ostdeutschen von der Regierung auf der anderen
Seite der Grenze, die es nie hätte geben dürfen, aufoktroyiert.
In anderen Teilen der Welt sieht es ähnlich aus--in Korea, Ungarn,
Rumänien, in der Tschechische Republik, in der Slowakei, in Polen,
Kroatien, Serbien usw., wo pragmatische Entwicklungen und soziale,
politische, wirtschaftliche, nationale und kulturelle Entwicklungen
vollkommen asynchron vor sich gehen. Auf die großen kulturellen und
wissenschaftlichen Leistungen des Ostblocks habe ich in anderem
Zusammenhang schon hingewiesen; auch darauf, daß die Stärke dieser
auf Schriftkultur basierenden Kulturen illusorisch und reine
Selbsttäuschung war.
In nicht allzu entfernter Vergangenheit lasen die Menschen dieser
Länder Bücher, besuchten Konzerte, Opern und Museen. Heute jagen
sie, wenn ihre Lebensumstände es noch zulassen, mit der gleichen
Leidenschaft hinter den Dingen her, die früher für sie unerreichbar
waren, auch wenn das einer Aufgabe ihrer geistigen Errungenschaften
gleichkommt. Die neue Sprache ist die Sprache des Konsums. Die alte
Beziehung zwischen der Sprache des Einzelnen und
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