gehört
der Interaktion zwischen Vielen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin
Buch V.
Kapitel 1:
Die interaktive Zukunft: Der Einzelne, die Gemeinschaft und die
Gesellschaft im Zeitalter des Internets
Zusammenbruch und Katastrophe gegenüber Hoffnung und ungeahnten
Möglichkeiten--dies sind die extremen Positionen in der hitzigen
Debatte um die Dynamik des weltweit sich vollziehenden Umbruchs.
Paul Virilio spricht vom Ende der Schrift in einem Zeitalter des
Fernsehens und der Bildverarbeitung und sagt das Ende des Sprechens
voraus--das Schweigen der Lämmer. Ähnlich weitreichende, aber
optimistischere Äußerungen kommen von denjenigen, die in den von
der Schriftkultur losgelösten Interaktionen eine Chance für soziale
Erneuerung sehen. Das elektronische Forum der Europäischen
Kommission, das sich mit dem Projekt Informationsgesellschaft
beschäftigt, hat eine Liste mit Zehn Kernpunkten aufgestellt, von denen
einer die radikale Reformierung des Kommunikations- und
Bildungssystems fordert.
Beide Positionen sind auf ihre Weise intolerant.
Während in der öffentlichen Diskussion immer wieder neue, wichtige
Aspekte des für diese Zeit der Diskontinuitäten charakteristischen
Konflikts auftauchen, konstituieren sich Milliarden von Menschen auf
unserem Planeten durch eine breite Vielfalt praktischer Erfahrungen.
Wir haben sie in den vorausgegangenen Kapiteln eingehend behandelt.
Angesichts dieses breiten pragmatischen Spektrums ist es fast
unmöglich, die Zukunft der virtuellen Gemeinschaften oder der
elektronischen Demokratie auszumalen, ohne naiv oder nachgerade
dumm zu erscheinen. Wir wissen, wie weit wir gekommen sind, aber
wir wissen nicht genau, wo wir stehen.
Da ich eine umfassendere pragmatische Perspektive anstrebe, wähle ich
einen Ansatz, der über die aktuellen kurzatmigen Argumentationen
hinausgeht. Eine These dieses Buch besteht ja darin, daß sich Lösungen
nicht aus euphorischer Technologieverherrlichung, aus kultureller
Selbstreplikation, aus auf biologischen Mechanismen beruhenden
Modellen, aus unfokussierten bionomischen Überlegungen oder
starrsinniger Kapitalismuskritik ergeben werden. Positive
Lösungsansätze, die über die Rhetorik intellektueller Kontroversen und
politischer Diskussionen hinausgehen, müssen sich aus den positiven
Handlungen ergeben, die unsere Identität als Individuum, Gemeinschaft
und Gesellschaft formen. Die Metapher der interaktiven Zukunft drückt
eine einfache These aus: Innerhalb der globalen Skala ist menschliche
Interaktion, als konkreter Ausdruck der Einbindung unendlich
vielfältiger kognitiver Ressourcen, die letzte verfügbare Ressource, von
der die Zukunft unserer Gattung abhängen könnte.
Das Überwinden der Schriftkultur
Das Überwinden der Schriftkultur geschieht in der Praxis eines
hocheffizienten Pragmatismus, der der globalen Skala des Menschen
entspricht. Diese Skala erfaßt die Bildung menschlicher
Gemeinschaften und die Interaktionen zwischen dem Einzelnen und der
Gemeinschaft. Wie schon erwähnt, haben Beduinen in der Sahara und
Indianer in den Anden genauso Zugang zum Fernsehen, wie die
Menschen in hochtechnologisierten Industrienationen. Die Identität von
Bevölkerungsgruppen in weniger entwickelten Gesellschaften ist auf
der globalen Landkarte wirtschaftlicher und politischer Verflechtungen
bereits zum Zielobjekt hochentwickelter Verarbeitungssysteme
geworden. In den Büchern der Weltwirtschaft ist ihre Existenz im
Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit, ihre Bedürfnisse und ihre
Kaufkraft genau verzeichnet. Menschen, die im Silicon Valley, in
Frankreich, Japan, Israel oder an einem anderen Ort dieses Planeten
virtuelle Gemeinschaften bilden, werden mit Hilfe unterschiedlichster
Methoden Gegenstand globaler Integration.
Die Ausweitung nicht-schriftgebundener Erfahrungen der
Selbstkonstituierung gibt berechtigten Anlaß zur Frage nach dem
sozialen Status des Individuums und der Natur der Beziehungen und
Abhängigkeiten in einer Gesellschaft. Kinder werden beispielsweise
stärker mit Bildern konfrontiert als mit Sprache. Sie neigen dazu, Zeit
als einen ständigen Jetzt-Zustand wahrzunehmen, und sie erwarten, daß
Befriedigung, so wie sie es im Fernsehen erleben, augenblicklich
eintritt und daß sie so leicht zu erlangen ist wie der Zugang zu einer
spannenden Seite im Internet. Sie werden zu Experten für interaktive
Spiele und für die Kontrolle extrem schneller Prozesse. Losgelöst von
Kultur und Tradition, sind sie besonders anpassungsfähig an neue
Situationen und bestrebt, eine eigene Form der Unabhängigkeit zu
finden. Sex, Drogen, Rap-Musik, Zugehörigkeit zu Sekten oder Gangs
sind Teil ihres widersprüchlichen Profils. Diese Jugendlichen sind die
Piloten in den Nintendo-Kriegen, aber auch die zukünftigen Entdecker
des Kosmos, die Physiker, Biologen und Gentechniker, die neue
Materialien gestalten und Maschinen von atemberaubender
Komplexität erfinden, bei denen jedes Millionstel einer Sekunde das
Ergebnis beeinflußt. Sie sind die Künstler und rekordhungrigen
Sportler von morgen; sie sind die Programmierer und Designer der
Zukunft. Sie werden Dienstleistungen in einem Wirtschaftssystem
bereitstellen, das durch seinen schnellen Wandel--wegen der ständig
wachsenden Nachfrage nach Ressourcen--nicht mehr mit den trägen
und wenig flexiblen Mitteln der Schriftkultur betrieben wird.
Daten belegen, daß diese Individuen weniger am Leben in der
Gemeinschaft interessiert und weniger an ethische Grundsätze der
Vergangenheit gebunden sind. Moralische Absolutismen und
Anteilnahme spielen keine große Rolle in diesem Leben, das geprägt ist
durch praktische Erfahrungen, die zur Selbständigkeit, oft verwechselt
mit Unabhängigkeit, führen sollen. Angesichts all dieser
Entwicklungen drängt sich die Frage auf, welche Form die Beziehung
zwischen Gemeinschaft und hocheffizienten Individuen, die sich in der
Regel in Abkapselung von den anderen entfalten, annehmen wird.
Welchen Status wird die Gemeinschaft bekommen?
Heutzutage klagen viele Bürger und Organisationen über die geringe
Lebensqualität in den urbanen Zentren (in den USA und überall auf der
Welt), hohe Arbeitslosigkeit und ein Gefühl der Randexistenz.
Einwanderer in vielen verschiedenen Gastländern, Gastarbeiter in der
Europäischen Union,
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