Jenseits der Schriftkultur, vol 3 | Page 9

Mihai Nadin
sondern auch eine Sprache f��r ihre optimale Funktionsf?higkeit. Insofern stellen sie auch eine Vielzahl von Wegen dar, in denen sich die Menschen durch die Sprache dieser Produkte konstituieren. Der Markt wird so zu einem Umschlagsort f��r die vielen Sprachen, die die Produkte sprechen. Die heute erreichten Effizienzebenen haben zu Erwartungen gef��hrt, die ihrerseits die komplexen Myriaden dessen erm?glichten, was heute produziert wird. In diesem pragmatischen Rahmen spielt Schriftkultur und Alphabetismus nur noch eine marginale Rolle.
Abgesehen von der Zur��ckdr?ngung der Schriftkultur m��ssen wir allerdings noch einen anderen Preis bezahlen: Weil jedes Produkt nicht nur seine eigene Sprache beinhaltet, sondern auch seine eigenen Wertkriterien, verzeichnen wir insgesamt einen Qualit?tsverlust. Fast jedes Produkt ist nur noch eines unter vielen anderen, aus denen wir ausw?hlen; ein jedes tr?gt seine eigene Rechtfertigung in sich. Der Wert wird dadurch relativiert, und oft genug liegt der Grund f��r einen Kauf oder f��r die Suche nach etwas Neuem gar nicht im Wert des Produkts. Grammatikregeln, die uns eine Vorstellung von der Ordnung und der Qualit?t des Schriftgebrauchs vermittelten, sind auf Produkte nicht anwendbar. Ebenso waren unsere Moralvorstellungen in die Sprache eingebettet und durch Schrift und Bildung getragen. Die Moralvorstellungen, die in den partiellen Alphabetismen der miteinander konkurrierenden Produkte verk?rpert sind, wollen den Konsumenten nicht mehr als religi?se oder ethische Prinzipien erscheinen, sondern allenfalls als Rechtfertigung f��r politischen Einflu?. ��ber bestimmte Regulierungen des Marktes bringt sich die Politik als Selbstbedienungsfaktor in die Handelsbeziehungen ein.
Handel und Schriftkultur
Fr��her haben die kleinen Gesch?fte in unserer Nachbarschaft nicht nur unseren t?glichen Bedarf abgedeckt, sondern waren gleichzeitig Kommunikationszentren. Ein Supermarkt mu? sich an Lagerkapazit?ten und optimaler Raumnutzung, an schnellem Warendurchgang und einer relativ geringen Verdienstspanne am einzelnen Produkt orientieren: Hier sind Kommunikation und Gespr?ch kontraproduktiv. Versandh?user und elektronische Bestellung haben das Gespr?ch v?llig er��brigt. Sie operieren jenseits von Schriftlichkeit und Schriftkultur und jenseits von menschlicher Interaktion. Die Handelsabl?ufe sind auf ein Minimum reduziert: Auswahl, Best?tigung, Angabe der Kreditkarte oder ihre automatische Erkennung und Best?tigung durch einen Netzwerkservice.
Die auf der Schriftkultur basierenden Handelsformen haben alle Merkmale der geschriebenen Sprache und des Lesens erfordert, so weit sie sich auf diese Transaktion bezogen. Die Schriftkultur trug dazu bei, da? die Bed��rfnisse breiter ausgef?chert und die W��nsche genauer artikuliert wurden, dementsprechend konnten sich die M?rkte entwickeln und eine bis dahin nicht gekannte Effizienz erreichen. Die daf��r n?tige Ausbildung und das Verbot von Kinderarbeit verk��rzten einerseits den produktiven Teil des menschlichen Lebens, andererseits wurde dessen Effizienz durch die aus der Schriftkultur hervorgehenden Lebensformen erh?ht. H?here Produktivit?t und eine breitere Nachfrage optimierten die Marktzyklen. Seit der Zeit der ph?nizischen Kaufleute haben die Schrift und die aus ihr hervorgehende Schriftkultur ihren Beitrag geleistet zu den Strategien des Warentausches, zur Besteuerung--die direkteste Form des politischen Eingriffs in den Markt--und zu den regulierenden Eingriffen in die vielf?ltigen Formen, in denen sich die Menschen im und durch den Markt konstituieren. Schriftliche Vertr?ge weckten Erwartungen bez��glich einer weitergehenden, allgemeineren Planung auf der Grundlage der Schriftlichkeit.
Zwischen der Gewinnung und Verarbeitung von Rohmaterialien und dem Verkauf und Konsum eines Produktes sind viele Ebenen geschaltet. Auf jeder Ebene ist eine andere Sprache wirksam, manchmal sehr konkret, bisweilen sehr abstrakt. Diese Sprachen sollen die Verarbeitungsprozesse und Handelsabl?ufe beschleunigen, die Risiken reduzieren, den Profit erh?hen und die Effektivit?t weltweiter Handelsbeziehungen sichern. Ohne negativen Einflu? auf die Effizienz der Vermittlung k?nnen diese neuen Handelsformen jedoch nicht mehr im Zentralismus einer Schriftkultur befangen bleiben. Die Ergebnisse einer 70j?hrigen Planwirtschaft in der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten--allesamt hochgebildete Gesellschaften--ist hierf��r ein sichtbarer Beweis. Die Geschwindigkeit der heutigen Handelsabl?ufe und der parallele Verlauf der Verhandlungen erfordern Sprachen von optimaler Funktionalit?t und minimaler Ambiguit?t. Manche Transaktionen m��ssen auf visuelle Argumente zur��ckgreifen, die ��ber die M?glichkeiten der Telekonferenz weit hinausgehen. Produkte und Verfahren werden noch im Verlauf der Verhandlungen durch die interaktive Verkn��pfung aller am Design, an der Herstellung und an der Vermarktung Beteiligten modifiziert.
Die ��berschreitung nationaler oder politischer (auch kultureller und religi?ser) Allianzen f��hrt zu einer neuen Form von Freiheit, die allerdings auch Freiheit von der schriftkulturellen Form einer Nationalsprache und von allen im schriftkulturellen Diskurs beheimateten Darstellungen und Definitionen von Freiheit bedeutet. Da Zeichensysteme und ganz besonders Sprachen keine neutralen Ausdrucksmittel sind, m��ssen wir uns zunehmend auch in den Zeichen anderer Kulturen zurechtfinden. Heute gibt es schon Unternehmensberatungen, die sich auf die Probleme der Interkulturalit?t und die unterschiedlichen Kulturformen verschiedener L?nder spezialisieren. Sie handeln mit dem, was Robert Reich Symbolmanipulation genannt hat. Deren Rat erstreckt sich auch auf Bereiche und Sitten, die jenseits der in der Schriftkultur festgehaltenen Werte liegen: also etwa auf die Frage, in welchen L?ndern Bestechung der effizienteste Weg zum gesch?ftlichen Erfolg ist.
Wessen Markt? Wessen Freiheit?
Ein Markt, der an die moralischen und politischen Begriffe des schriftkulturellen Diskurses gebunden bleibt, erreicht schnell die Grenzen seiner Effizienz. Wir begegnen diesen Grenzen auf andere Weise, wenn wir in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenh?ngen mit Idealen oder Verhandlungspositionen konfrontiert werden, deren implizite Wertvorstellungen sich aus Erwartungen (bez��glich eines
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