Jenseits der Schriftkultur, vol 3 | Page 5

Mihai Nadin
ihre Schreberg?rten hergeben als die digitale Autobahn zu akzeptieren, die doch die Staus auf ihren richtigen Autobahnen zu den Hauptverkehrszeiten abbauen k?nnte--ich betone das ?k?nnte��. Noch immer lebt es sich gut durch den Export eines technischen und wissenschaftlichen Know-how, dessen Glanzzeit allerdings vor��ber ist.
Als ein hochzivilisiertes Land ist Deutschland fest entschlossen, den barbarischen Teil seiner Vergangenheit hinter sich zu lassen. Der Klarheit halber sei gesagt, was ich unter barbarisch verstehe: Hitler-Deutschland verdient keinen anderen Namen, ebensowenig wie alle anderen ?u?erungen von Aggression, Antisemitismus und Rassismus, die noch immer nicht der Vergangenheit angeh?ren. Aber bis heute hat man nicht verstanden, da? eben jene pragmatische Struktur, die die industrielle Kraft Deutschlands begr��ndete, auch die destruktiven Kr?fte beg��nstigte. (Man denke nur an die Technologieexporte, die die wahnsinnigen F��hrer ?lreicher L?nder erst j��ngst in die H?nde bekommen haben.) Das wiedervereinigte Deutschland ist bereit, in einer Welt mit globalen Aufgaben und globalen Problemen Verantwortung zu ��bernehmen. Es setzt sich unter anderem f��r den Schutz des tropischen Regenwaldes ein und zahlt f��r Werte--den Schutz der Umwelt--statt f��r Produkte. Aber die politischen F��hrer Deutschlands und mit ihnen gro?e Teile der Bev?lkerung haben noch nicht begriffen, da? der Osten des Landes nicht unbedingt ein Duplikat des Westens werden mu?, damit beide Teile zusammenpassen. Differenz, d. h. Andersartigkeit, ist eine Qualit?t, die sich in Deutschland keiner gro?en Wertsch?tzung erfreut. Verlorene Chancen sind der Preis, den Deutschland f��r diese preu?ische Tugend der Gleichmacherei bezahlen mu?.
Die englische Originalfassung dieses Buches wurde 1997 auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt und in der Folge von der Kritik wohlwollend aufgenommen. Dank der gro?z��gigen Unterst��tzung durch die Mittelsten-Scheid Stiftung Wuppertal und die Alfred und Cl?re Pott Stiftung Essen, f��r die ich an dieser Stelle noch einmal Dank sage, konnte dann Anfang 1998 die Realisierung des von Beginn an bestehenden Plans einer deutschsprachigen Ausgabe konkret ins Auge gefa?t werden. Und nachdem Prof. Dr. Norbert Greiner, bei dem ich mich hier ebenfalls herzlich bedanken m?chte, f��r die ��bersetzung gewonnen war, konnte z��gig an die Erarbeitung einer gegen��ber der englischen Ausgabe deutlich komprimierten und st?rker auf den deutschsprachigen Diskussionskontext zugeschnittenen deutschen Ausgabe gegangen werden. Einige Kapitel der Originalausgabe sind in der deutschsprachigen Edition entfallen, andere wurden stark ��berarbeitet. Entfallen sind vor allem solche Kapitel, die sich in ihren inhaltlichen Bez��gen einem deutschen Leser nicht unmittelbar erschlie?en w��rden. Ein Nachwort, das sich ausschlie?lich an die deutschen Leser wendet, wurde erg?nzt.
Die deutsche Fassung ist also eigentlich ein anderes Buch. Wer das Thema erweitern und vertiefen m?chte, ist selbstverst?ndich eingeladen, auf die englische Version zur��ckzugreifen, in die 15 Jahre intensiver Forschung, Beobachtung und Erfahrung mit der neuen Technologie und der amerikanischen Kultur eingegangen sind. Ein Vorzug der kompakten deutschen Version liegt darin, da? die j��ngsten Entwicklungen--die so schnell vergessen sein werden wie alle anderen Tagesthemen--?Fortsetzungen�� meiner Argumente darstellen und sie gewisserma?en kommentieren. Sie haben wenig miteinander zu tun und sind dennoch in den folgenden Kapiteln antizipiert: Guildos Auftritt beim Grand Prix d��Eurovision (liebt er uns eigentlich immer noch, und warum ist das so wichtig?), die entt?uschende Leistung der deutschen Nationalmannschaft bei der Fu?ballweltmeisterschaft (standen sich im Endspiel Brasilien und Frankreich oder Nike und Adidas gegen��ber?), die Asienkrise, das Ergebnis der Bundestagswahlen, der Euro, neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie, die j��ngsten Arbeitslosenzahlen, die ?kosteuer und vieles mehr. Wer sich der M��he einer gr��ndlichen Lekt��re des vorliegenden Buches unterzieht, wird sich auf diese Entwicklungen einen eigenen Reim machen k?nnen, sehr viel besser als die Mediengurus, die uns das Denken abnehmen wollen. Zumindest wird er ��ber die wortreichen Artikel halbgebildeter Akademiker und opportunistischer Journalisten schmunzeln, die allzeit bereit sind, anderen zu erkl?ren, was sie selbst nicht verstehen.
Wie in der englischen Version m?chte ich auch meine deutschen Leser einladen, mit mir in Kontakt zu treten und mir ihre kritischen Kommentare oder Fragen per e-mail zukommen zu lassen: [email protected]. Im Einklang mit dem Ziel des Buches, f��r die Kommunikation jenseits der Schriftkultur das schriftkulturelle Eins-zu-Viele-Verh?ltnis (Autor:Leser) zu ��berwinden, wird f��r dieses Buch im World Wide?Web ein Forum eingerichtet. Die Zukunft geh?rt der Interaktion zwischen Vielen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin

Buch III.

Kapitel 1:
Schriftkultur, Sprache und Markt
M?rkte sind vermittelnde Maschinen. Heutzutage verstehen wir unter Maschine allerdings etwas anderes als das, was das industrielle Maschinenzeitalter darunter verstand--ein Zeitalter, das wir eng mit dem pragmatischen Handlungsrahmen der Schriftkultur verbunden sehen. Heute ruft der Begriff Maschine eher Assoziationen an Software, d. h. Programme, weniger an Hardware, d. h. Dinge, hervor. Insgesamt umfa?t der Begriff Maschine jedoch Input und Output, Verarbeitungsproze?, Kontrollmechanismen und vorhersagbare Funktionsf?higkeit. Hier beginnen unsere Schwierigkeiten, und zwar weil uns M?rkte bestenfalls als willk��rlich, planlos, alles andere als programmiert erscheinen. Marktvoraussage ist fast ein Oxymoron. Was f��r eine Formel Fachleute auch ersinnen--der Markt geriert sich vollkommen anders.
Eine unglaubliche Zahl von Transaktionen unterwirft die Produkte der menschlichen Selbstkonstituierung st?ndig dem Test der Markteffizienz. Nichts kann sich diesem Test entziehen: Ideen, Waren, Individuen, Kunst, Sport, Unterhaltung. Wie eine Kaulquappe scheint sich der
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