Jenseits der Schriftkultur, vol 2 | Page 9

Mihai Nadin
Sprache, das sich aus ihrer Verwendung ergab. Erst dadurch erhielt die Sprache ihre semantische und syntaktische Dimension.
Wenn wir Fragen der Schriftkultur und der Sprachentstehung verkn��pfen, dann ist deren gemeinsame Grundlage die Schriftsprache. Gleichwohl geben uns Vorg?nge, die der Schriftsprachlichkeit vorausgingen, Aufschl��sse dar��ber, welche Faktoren die Schriftsprache erforderlich machten und warum manche Kulturen niemals eine Schriftsprache entwickelt haben. Dies wiederum k?nnte trotz des weit zur��ckliegenden Zeitrahmens (von tausenden von Jahren) erkl?ren, warum Schreiben und Lesen nicht notwendigerweise unser heutiges und zuk��nftiges Leben und Arbeiten beherrschen m��ssen. Zumindest k?nnten wir das Verh?ltnis zwischen Mensch, Sprache und Dasein besser verstehen. Wir betrachten das Wort als etwas selbstverst?ndlich Gegebenes und fragen uns, ob es je einen Menschen ohne Wort gegeben hat. Als das Wort aber erst einmal durch die M?glichkeit seiner Aufzeichnung etabliert war, beeinflu?te es nicht nur die zuk��nftige Entwicklung, sondern auch das Verst?ndnis der Vergangenheit.
Das Wort bem?chtigt sich der Vergangenheit und verleiht den Erkl?rungen, die die Existenz des Wortes voraussetzen, ihre Legitimit?t. Es beruht auf einem Notationssystem, das zugleich eine Art eingebautes Ged?chtnis und ein Mechanismus f��r Assoziationen, Permutationen und Substitutionen ist. Wenn wir aber die Urspr��nge des Lesens und Schreibens so weit zur��ckverlegen, dann erweist sich der Gegensatz von Schriftlichkeit und Schriftlosigkeit als Strukturmerkmal nur einer der zahlreichen menschlichen Entwicklungsperioden. In einer so weiten zeitlichen Perspektive widerspricht unsere Auffassung von Notation (zu der wir auch Bilder, den Ishango Knochen, die Quipu-Schn��re, die Vinca-Figuren usw. z?hlen) dem logokratischen Sprachmodell. Ein- und mehrsilbige Sprachelemente, h?rbare Lautfolgen (und entsprechende Atemtechniken, die Pausen vorsehen und Synchronisierungsmechanismen erm?glichen) sowie nat��rliche Mnemotechniken (Kiesel, Astknoten, Steingestalten usw.) sind dem Wort vorausgehende Komponenten einer vorsprachlichen Notation. Sie entsprechen allesamt einem durch direkte Interaktion gekennzeichneten Entwicklungsstadium. Sie beziehen sich auf eine kleine Skala menschlichen Handelns, in welcher Zeit und Raum noch in Form nat��rlicher Strukturen (Tag-Nacht, nah-fern, usw.) eingeteilt werden k?nnen.
Der entscheidende Entwicklungsschritt in der Selbstkonstituierung des Menschen wurde mit dem ��bergang von aus der Natur ausgew?hlten Zeichen zum Bezeichnen vollzogen, ein Proze?, der zu etablierten Klangmustern und schlie?lich zum Wort f��hrte. Diese Ver?nderung f��hrte lineare Beziehungen in einen sich als zuf?llig oder chaotisch darbietenden Bereich ein. Auch entwickelten sich neue Formen der Interaktion: Namensgebung (durch Assoziation, etwa wenn Clans die Namen von Tieren trugen), Ordnen und Z?hlen (zun?chst die paarweise Zuordnung der gez?hlten Gegenst?nde zu anderen Gegenst?nden) oder die Aufzeichnung von Regelm??igkeiten (des Wetters, der Himmelsbeschaffenheit, biologischer Zyklen), soweit sie sich auf das Ergebnis praktischer T?tigkeiten auswirkten.
Skala und Schwelle
Auf den vorangegangenen Seiten ist der Begriff der Skala als wichtiger Parameter der Menschheitsentwicklung wiederholt verwendet worden. Da er f��r die Erkl?rung gro?er Ver?nderungen im menschlichen Handeln von zentraler Bedeutung ist, soll er etwas n?her erl?utert werden. So geht die Entwicklung von pr?verbalen Zeichen zu Notationsformen und in unserer Zeit von Alphabetismus zu einem Stadium jenseits der Schriftlichkeit (PostAlphabetismus) einher mit einer Fortentwicklung der (Erfahrungs- und Handlungs-) Skala des Menschen. Reine Zahlen--etwa dar��ber, wie viele Menschen in einem bestimmten Gebiet leben oder in einem bestimmten praktischen Erfahrungszusammenhang interagieren, die Lebensdauer von Menschen unter bestimmten Bedingungen, Sterblichkeitsrate, Familiengr??e--sagen dabei wenig oder gar nichts aus. Nur wenn Zahlen zu Lebensumst?nden in Beziehung gesetzt werden k?nnen, sind sie aufschlu?reich. Der Begriff der Skala dr��ckt derartige Beziehungen aus.
So brachte die Haltung von Haustieren, die eine entscheidende Erweiterung der Handlungsskala bedeutete, mit sich, da? bestimmte Tierkrankheiten auf die Menschen ��bertragen wurden und deren Leben und Arbeit nachhaltig beeintr?chtigten. Der Schnupfen wurde wohl vom Pferd auf den Menschen ��bertragen, die Grippe vom Schwein, die Windpocken vom Rind. Auch wissen wir, da? sich ��ber einen l?ngeren Zeitraum gesehen Infektionskrankheiten (Gelbfieber, Malaria oder Masern) negativ auf gro?e, station?re menschliche Populationen auswirken. Wichtige Erkenntnisse liefern uns bisweilen auch jene isolierten Volksst?mme, deren heutige Lebensformen denen aus weit zur��ckliegenden Entwicklungsstadien noch weitgehend ?hnlich sind, also zum Beispiel die Indianerst?mme des Amazonas. Sie weisen Anpassungsstrategien auf, die wir ohne Anschauung kaum verstehen k?nnten. Die aus der Beobachtung gewonnenen statistischen Daten k?nnen dabei unsere auf dem Wissen um biologische Mechanismen beruhenden Modelle deutlich verbessern.
Der Begriff der Skala bezieht derartige ��berlegungen mit ein, denn er erhellt, da? sich die Lebenserwartung in unterschiedlichen pragmatischen Lebenszusammenh?ngen drastisch unterscheidet. Eine Lebenserwartung von weniger als 30 Jahren (die sich aus einer hohen Rate der Kindersterblichkeit, aus Krankheiten und den Gefahren der nat��rlichen Umwelt ergibt) erkl?rt sich aus den Umst?nden der relativ station?ren Bev?lkerung der J?ger und Sammler. Etwa zwanzig Jahre h?her lag die Lebenserwartung in den Siedlungsformen vor den St?dtegr��ndungen (die sich zu unterschiedlichen Zeiten in Kleinasien, Nordafrika, dem Fernen Osten, S��damerika und Europa entwickelten). Die Landwirtschaft f��hrte zu mannigfaltigeren Ressourcen und setzte eine Dynamik aus geringerer Sterblichkeitsrate, h?herer Geburtenrate und ver?nderten anatomischen Merkmalen (h?herem K?rperwuchs) in Gang.
Im vorliegenden Zusammenhang sind besonders die Ergebnisse der auf alte Sprachfamilien gerichteten Sprachgeschichte interessant, die eine Beziehung zwischen der Verbreitung von Sprachfamilien ��ber weite Gebiete und einer sich ausweitenden landwirtschaftlichen Bev?lkerung erkennen l??t. Mit der sogenannten neolithischen Revolution entwickelten sich in
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