Japanische Märchen | Page 8

Karl Alberti
Rätsel, reißt die Binde von meinen Augen, daß
ich sehen kann!«
»Ich verstehe euch nicht, junger Mann!« entgegnete der Greis, »diese
Stätte ist ein Trümmerhaufen, solange ich denken kann. Ich kenne euch
nicht; wer seid ihr? Wie ist euer Name?«
»Ich bin Urashima Taro, der Fischer!« rief Urashima.
»Urashima Taro? -- --« rief der Greis voller Erstaunen und wich
schreckerfüllt einige Schritte zurück. »Seid ihr ein Gespenst? -- ein
Schattenbild? -- Urashima Taro könnt ihr nicht sein! Es geht hier die
Sage und ich erinnere mich aus meiner Jugendzeit, da von diesem noch
oft an dunkeln Abenden erzählt wurde, dieser junge Fischer ging vor
nun 700 Jahren eines Morgens aufs Meer und kehrte nicht mehr zurück.
Die Gräber seiner Angehörigen könnt ihr auf dem Friedhofe noch heute
sehen, allerdings zerfallen, verwittert!« --
Urashima erblaßte, »siebenhundert Jahre?« rief er verzweifelt aus und
rang die Hände. Jetzt wurde ihm alles klar. Jetzt verstand er alles!
Sieben Tage im Palaste der Königin waren sieben Jahrhunderte. Tiefe
Traurigkeit bemächtigte sich seiner, er erzählte dem Alten mit
stockender Stimme sein Lebensschicksal, dann erhob er sich und
verließ schwankenden Schrittes wie ein Träumender das Haus; er
wandte sich wieder dem Meere zu und ließ sich dort am Strande nieder,
seine Lage bedenkend.

[Abbildung]
Tiefsinnig betrachtete er die rollenden Wogen, die unermeßliche Fläche
und schaute verlangend nach der Schildkröte aus, daß sie ihn wieder
zurückführe in das ewig jugendliche Reich der Meereskönigin; er
dachte aber in seiner Traurigkeit nicht daran, sie zu rufen und so sah er
vergeblich nach dem Tiere aus.
Dann fiel sein Blick auf das Kästchen, das ihm die Königin beim
Abschiede gegeben hatte und das er gedankenlos neben sich auf den
Sand gelegt hatte.
»Was bedeutet dieses Kästchen?« fragte er sich. Die schöne Königin
hat zwar gesagt, es sei mein Leben darin und ich werde es verlieren,
wenn ich das Kästchen öffne. Ist dieses Gebot aber vielleicht nur eine
Probe? Enthält das Kästchen nicht vielmehr mein Glück? Ist alles, was
ich heute erlebte, nur eine Täuschung und schwindet diese, wenn ich
das Kästchen öffne? Und selbst wenn ich sterben sollte, was schadet es?
Bin ich jetzt nicht ein Fremdling in meiner Heimat und habe
niemanden, niemanden, der mich liebt, der mich kennt? Ohne Vater,
ohne Familie, ohne Bekannte, ohne Freunde bin ich schlimmer daran
als ein Heimatloser; da ist mir der Tod nur ein Gewinn, er bietet mir
etwas Besseres, als dieses unglückselige Leben! So sprechend, löste er
langsam die Schnur, die um das Kästchen geschlungen war und öffnete
ein wenig den Deckel.
Da stieg ein kleines weißes Wölkchen aus dem Kästchen empor,
breitete sich dann aus, erhob sich und schwebte langsam über das Meer
der Richtung zu, wo sich der Palast der Meereskönigin befand.
Laut aufschreiend sprang Urashima empor und breitete sehnsüchtig die
Arme aus, aber -- ein jäher heftiger Schmerz durchzuckte seinen
Körper und er ließ die Arme sinken, da blickte er auf seine Hand und
ein eisiger Schauer befiel ihn, die Hand, soeben noch so frisch und
rosig, war welk, runzlig und knochig wie die eines Greises; nun fühlte
er auch wie sein Blut erstarrte, wie es träger durch seine Adern floß, die
Haut zog sich in Falten, der Herzschlag stockte, noch einmal schaute er
ins Wasser, da spiegelte sich ihm ein verrunzeltes graues Greisenantlitz

mit spärlich weißem Haar entgegen, sein eigenes Antlitz, vor Minuten
noch in Jugendfrische, jetzt mumienhaft verändert. Mit einem
Wehelaut sank er zu Boden und ein Häuflein grauen Staubes
bezeichnete die Stätte, da Urashima jugendfrisch zurückgekehrt in
wenigen Minuten zu Staub wurde.[4]
[Anmerkung 1: Sprich: Uraschima; Urashima = Eigenname, taro =
ältester Sohn, im übertragenen Sinne etwa: der Erstgeborene, der
Ältere.]
[Anmerkung 2: Derartige Tierquälereien kann man noch heute
tagtäglich als eine Belustigung der japanischen Jugend beobachten.]
[Anmerkung 3: »sama« auch »san« = Herr, sama ist die höflichere
Form als san.]
[Anmerkung 4: Die Schicksale Urashima's sind urkundlich bestätigt.
Die Zeit seiner Abwesenheit in der japanischen Chronik wird 477--825
n.Chr. angegeben, also 348 Jahre. In den Märchen, die verschiedenartig
lauten, schwankt die Zeit zwischen 300 bis 7000 Jahre. Ich habe die
mittlere Zeit gewählt, die in den neuesten japanischen Ausgaben auf
700 Jahre angegeben wird. Im Dorfe Kanagawa bei Yokohama werden
heute noch das Grab und die Fischergeräte Urashima's gezeigt.
Urashima ist eine der beliebtesten Märchenfiguren Japans.]

[Verzierung]
Wenn man mit Kobolden tanzt!
In alter Zeit lebte einmal ein Landmann, der hatte auf der rechten
Wange eine große Geschwulst, groß wie eine Birne. Als dieser
Landmann eines Tages in den Wald ging um Reisig zu sammeln, wurde
er von einem Gewitter überrascht und flüchtete in einen hohlen Baum,
wo er Schutz vor dem Regen fand. Als das Gewitter endlich aufhörte,
war es Nacht geworden und der Landmann konnte den Weg nach
Hause nicht finden; deshalb blieb er in der Höhlung des Baumes sitzen
und erwartete den Morgen.

Im
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