Italienische Reise, vol 2 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Person zu leisten, wozu
dennoch eine Folge von Jahrhunderten erforderlich gewesen.
Kehren wir zu Raffaels Kartonen zurück und sprechen aus, daß sie alle
männlich gedacht sind; sittlicher Ernst, ahnungsvolle Größe walten
überall, und obgleich hie und da geheimnisvoll, werden sie doch
denjenigen durchaus klar, welche von dem Abschiede des Erlösers und
den wundervollen Gaben, die er seinen Jüngern hinterließ, aus den
heiligen Schriften genugsam unterrichtet sind.
Nehmen wir vor allen die Beschämung und Bestrafung des Ananias vor
Augen, da uns denn jederzeit der kleine, dem Mark Anton nicht
unbillig zugeschriebene Kupferstich, nach einer ausführlichen
Zeichnung Raffaels, die Nachbildung der Kartone von Dorigny und die
Vergleichung beider hinlänglichen Dienst leisten.
Wenig Kompositionen wird man dieser an die Seite setzen können; hier
ist ein großer Begriff, eine in ihrer Eigentümlichkeit höchst wichtige

Handlung in ihrer vollkommensten Mannigfaltigkeit auf das klarste
dargestellt.
Die Apostel als fromme Gabe das Eigentum eines jeden, in den
allgemeinen Besitz dargebracht, erwartend; die heranbringenden
Gläubigen auf der einen, die empfangenden Dürftigen auf der andern
Seite, und in der Mitte der Defraudierende gräßlich bestraft: eine
Anordnung, deren Symmetrie aus dem Gegebenen hervorgeht und
welche wieder durch die Erfordernisse des Darzustellenden nicht
sowohl verborgen als belebt wird; wie ja die unerläßliche symmetrische
Proportion des menschlichen Körpers erst durch mannigfaltige
Lebensbewegung eindringliches Interesse gewinnt.
Wenn nun bei Anschauung dieses Kunstwerkes der Bemerkungen kein
Ende sein würde, so wollen wir hier nur noch ein wichtiges Verdienst
dieser Darstellung auszeichnen. Zwei männliche Personen, welche
herankommend zusammengepackte Kleidungsstücke tragen, gehören
notwendig zu Ananias; aber wie will man hieraus erkennen, daß ein
Teil davon zurückgeblieben und dem Gemeingut unterschlagen worden?
Hier werden wir aber auf eine junge hübsche Weibsperson aufmerksam
gemacht, welche mit einem heitern Gesichte aus der rechten Hand Geld
in die linke zählt; und sogleich erinnern wir uns an das edle Wort: "Die
Linke soll nicht wissen, was die Rechte gibt", und zweifeln nicht, daß
hier Saphira gemeint sei, welche das den Aposteln einzureichende Geld
abzählt, um noch einiges zurückzubehalten, welches ihre heiter listige
Miene anzudeuten scheint. Dieser Gedanke ist erstaunenswürdig und
furchtbar, wenn man sich ihm hingibt. Vor uns der Gatte, schon
verrenkt und bestraft am Boden in gräßlicher Zuckung sich windend;
wenig hinterwärts, das Vorgehende nicht gewahr werdend, die Gattin,
sicher arglistig sinnend, die Göttlichen zu bevorteilen, ohne Ahnung,
welchem Schicksal sie entgegengeht. Überhaupt steht dieses Bild als
ein ewiges Problem vor uns da, welches wir immer mehr bewundern, je
mehr uns dessen Auflösung möglich und klar wird. Die Vergleichung
des Mark-Antonischen Kupfers, nach einer gleich großen Zeichnung
Raffaels, und des größeren von Dorigny, nach dem Karton, führt uns
abermals in die Tiefe der Betrachtung, mit welcher Weisheit ein
solches Talent bei einer zweiten Behandlung derselben Komposition

Veränderungen und Steigerungen zu bewirken gewußt hat. Bekennen
wir gern, daß ein solches Studium uns zu den schönsten Freuden eines
langen Lebens gedient hat.

Juli
Korrespondenz
Rom, den 5. Juli 1787
Mein jetziges Leben sieht einem Jugendtraume völlig ähnlich, wir
wollen sehen, ob ich bestimmt bin, ihn zu genießen, oder zu erfahren,
daß auch dieses, wie so vieles andre, nur eitel ist. Tischbein ist fort,
sein Studium aufgeräumt, ausgestäubt und ausgewaschen, so daß ich
nun gerne drin sein mag. Wie nötig ist's, in der jetzigen Zeit ein
angenehmes Zuhause zu haben. Die Hitze ist gewaltig. Morgens mit
Sonnenaufgang steh' ich auf und gehe nach der Acqua acetosa, einem
Sauerbrunnen, ungefähr eine halbe Stunde von dem Tor, an dem ich
wohne, trinke das Wasser, das wie ein schwacher Schwalbacher
schmeckt, in diesem Klima aber schon sehr wirksam ist. Gegen acht
Uhr bin ich wieder zu Hause und bin fleißig auf alle Weise, wie es die
Stimmung nur geben will. Ich bin recht wohl. Die Hitze schafft alles
Flußartige weg und treibt, was Schärfe im Körper ist, nach der Haut,
und es ist besser, daß ein übel jückt, als daß es reißt und zieht. Im
Zeichnen fahr' ich fort, Geschmack und Hand zu bilden, ich habe
Architektur angefangen ernstlicher zu treiben, es wird mir alles
erstaunend leicht (das heißt der Begriff, denn die Ausübung erfordert
ein Leben). Was das Beste war: ich hatte keinen Eigendünkel und keine
Prätension, ich hatte nichts zu verlangen, als ich herkam. Und nun
dringe ich nur drauf, daß mir nichts Name, nichts Wort bleibe. Was
schön, groß, ehrwürdig gehalten wird, will ich mit eignen Augen sehn
und erkennen. Ohne Nachahmung ist dies nicht möglich. Nun muß ich
mich an die Gipsköpfe setzen. (Die rechte Methode wird mir von
Künstlern angedeutet. Ich halte mich zusammen, was möglich ist.) Am
Anfang der Woche konnt' ich's nicht absagen, hier und da zu essen.
Nun wollen sie mich hier--und dahin haben; ich lasse es vorübergehn

und bleibe in meiner Stille. Moritz, einige Landsleute im Hause, ein
wackerer Schweizer sind mein gewöhnlicher Umgang. Zu Angelika
und Rat Reiffenstein geh' ich auch; überall mit meiner nachdenklichen
Art, und niemand
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 83
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.