Italienische Reise, vol 2 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
empfangenden Dürftigen auf der andern Seite, und in der Mitte der Defraudierende gr??lich bestraft: eine Anordnung, deren Symmetrie aus dem Gegebenen hervorgeht und welche wieder durch die Erfordernisse des Darzustellenden nicht sowohl verborgen als belebt wird; wie ja die unerl??liche symmetrische Proportion des menschlichen K?rpers erst durch mannigfaltige Lebensbewegung eindringliches Interesse gewinnt.
Wenn nun bei Anschauung dieses Kunstwerkes der Bemerkungen kein Ende sein würde, so wollen wir hier nur noch ein wichtiges Verdienst dieser Darstellung auszeichnen. Zwei m?nnliche Personen, welche herankommend zusammengepackte Kleidungsstücke tragen, geh?ren notwendig zu Ananias; aber wie will man hieraus erkennen, da? ein Teil davon zurückgeblieben und dem Gemeingut unterschlagen worden? Hier werden wir aber auf eine junge hübsche Weibsperson aufmerksam gemacht, welche mit einem heitern Gesichte aus der rechten Hand Geld in die linke z?hlt; und sogleich erinnern wir uns an das edle Wort: "Die Linke soll nicht wissen, was die Rechte gibt", und zweifeln nicht, da? hier Saphira gemeint sei, welche das den Aposteln einzureichende Geld abz?hlt, um noch einiges zurückzubehalten, welches ihre heiter listige Miene anzudeuten scheint. Dieser Gedanke ist erstaunenswürdig und furchtbar, wenn man sich ihm hingibt. Vor uns der Gatte, schon verrenkt und bestraft am Boden in gr??licher Zuckung sich windend; wenig hinterw?rts, das Vorgehende nicht gewahr werdend, die Gattin, sicher arglistig sinnend, die G?ttlichen zu bevorteilen, ohne Ahnung, welchem Schicksal sie entgegengeht. überhaupt steht dieses Bild als ein ewiges Problem vor uns da, welches wir immer mehr bewundern, je mehr uns dessen Aufl?sung m?glich und klar wird. Die Vergleichung des Mark-Antonischen Kupfers, nach einer gleich gro?en Zeichnung Raffaels, und des gr??eren von Dorigny, nach dem Karton, führt uns abermals in die Tiefe der Betrachtung, mit welcher Weisheit ein solches Talent bei einer zweiten Behandlung derselben Komposition Ver?nderungen und Steigerungen zu bewirken gewu?t hat. Bekennen wir gern, da? ein solches Studium uns zu den sch?nsten Freuden eines langen Lebens gedient hat.

Juli
Korrespondenz
Rom, den 5. Juli 1787
Mein jetziges Leben sieht einem Jugendtraume v?llig ?hnlich, wir wollen sehen, ob ich bestimmt bin, ihn zu genie?en, oder zu erfahren, da? auch dieses, wie so vieles andre, nur eitel ist. Tischbein ist fort, sein Studium aufger?umt, ausgest?ubt und ausgewaschen, so da? ich nun gerne drin sein mag. Wie n?tig ist's, in der jetzigen Zeit ein angenehmes Zuhause zu haben. Die Hitze ist gewaltig. Morgens mit Sonnenaufgang steh' ich auf und gehe nach der Acqua acetosa, einem Sauerbrunnen, ungef?hr eine halbe Stunde von dem Tor, an dem ich wohne, trinke das Wasser, das wie ein schwacher Schwalbacher schmeckt, in diesem Klima aber schon sehr wirksam ist. Gegen acht Uhr bin ich wieder zu Hause und bin flei?ig auf alle Weise, wie es die Stimmung nur geben will. Ich bin recht wohl. Die Hitze schafft alles Flu?artige weg und treibt, was Sch?rfe im K?rper ist, nach der Haut, und es ist besser, da? ein übel jückt, als da? es rei?t und zieht. Im Zeichnen fahr' ich fort, Geschmack und Hand zu bilden, ich habe Architektur angefangen ernstlicher zu treiben, es wird mir alles erstaunend leicht (das hei?t der Begriff, denn die Ausübung erfordert ein Leben). Was das Beste war: ich hatte keinen Eigendünkel und keine Pr?tension, ich hatte nichts zu verlangen, als ich herkam. Und nun dringe ich nur drauf, da? mir nichts Name, nichts Wort bleibe. Was sch?n, gro?, ehrwürdig gehalten wird, will ich mit eignen Augen sehn und erkennen. Ohne Nachahmung ist dies nicht m?glich. Nun mu? ich mich an die Gipsk?pfe setzen. (Die rechte Methode wird mir von Künstlern angedeutet. Ich halte mich zusammen, was m?glich ist.) Am Anfang der Woche konnt' ich's nicht absagen, hier und da zu essen. Nun wollen sie mich hier--und dahin haben; ich lasse es vorübergehn und bleibe in meiner Stille. Moritz, einige Landsleute im Hause, ein wackerer Schweizer sind mein gew?hnlicher Umgang. Zu Angelika und Rat Reiffenstein geh' ich auch; überall mit meiner nachdenklichen Art, und niemand ist, dem ich mich er?ffnete. Lucchesini ist wieder hier, der alle Welt sieht und den man sieht wie alle Welt. Ein Mann, der sein Metier recht macht, wenn ich mich nicht sehr irre. N?chstens schreib' ich dir von einigen Personen, die ich bald zu kennen hoffe.
"Egmont" ist in der Arbeit, und ich hoffe, er wird geraten. Wenigstens hab' ich immer unter dem Machen Symptome gehabt, die mich nicht betrogen haben. Es ist recht sonderbar, da? ich so oft bin abgehalten worden, das Stück zu endigen, und da? es nun in Rom fertig werden soll. Der erste Akt ist ins Reine und zur Reife, es sind ganze Szenen im Stücke, an die ich nicht zu rühren brauche.
Ich habe über allerlei Kunst so viel Gelegenheit zu denken, da? mein "Wilhelm Meister" recht anschwillt. Nun sollen aber die alten Sachen voraus weg; ich bin alt genug, und wenn ich noch etwas machen will, darf ich mich nicht s?umen. Wie du dir leicht denken kannst, hab' ich hundert
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