Italienische Reise, vol 1 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
bestand hauptsächlich darin, daß ich
mehrere Gedichte erhielt im Namen meiner unternommenen, aber
vernachlässigten Arbeiten, worin sich jedes nach seiner Art über mein
Verfahren beklagte. Darunter zeichnete sich ein Gedicht im Namen der
Vögel aus, wo eine an Treufreund gesendete Deputation dieser muntern
Geschöpfe inständig bat, er möchte doch das ihnen zugesagte Reich
nunmehr auch gründen und einrichten. Nicht weniger einsichtig und
anmutig waren die äußerungen über meine andern Stückwerke, so daß
sie mir auf einmal wieder lebendig wurden und ich den Freunden meine

gehabten Vorsätze und vollständigen Plane mit Vergnügen erzählte.
Dies veranlaßte dringende Forderungen und Wünsche und gab Herdern
gewonnen Spiel, als er mich zu überreden suchte, ich möchte diese
Papiere nochmals mit mir nehmen, vor allem aber Iphigenien noch
einige Aufmerksamkeit schenken, welche sie wohl verdiene. Das Stück,
wie es gegenwärtig liegt, ist mehr Entwurf als Ausführung, es ist in
poetischer Prosa geschrieben, die sich manchmal in einen jambischen
Rhythmus verliert, auch wohl andern Silbenmaßen ähnelt. Dieses tut
freilich der Wirkung großen Eintrag, wenn man es nicht sehr gut liest
und durch gewisse Kunstgriffe die Mängel zu verbergen weiß. Er legte
mir dieses so dringend ans Herz, und da ich meinen größeren Reiseplan
ihm wie allen verborgen hatte, so glaubte er, es sei nur wieder von einer
Bergwanderung die Rede, und weil er sich gegen Mineralogie und
Geologie immer spöttisch erwies, meinte er, ich sollte, anstatt taubes
Gestein zu klopfen, meine Werkzeuge an diese Arbeit wenden. Ich
gehorchte so vielen wohl gemeinten Andrängen: bis hierher aber war es
nicht möglich, meine Aufmerksamkeit dahin zu lenken. Jetzt sondere
ich "Iphigenien" aus dem Paket und nehme sie mit in das schöne,
warme Land als Begleiterin. Der Tag ist so lang, das Nachdenken
ungestört, und die herrlichen Bilder der Umwelt verdrängen
keineswegs den poetischen Sinn, sie rufen ihn vielmehr, von Bewegung
und freier Luft begleitet, nur desto schneller hervor.
Vom Brenner bis Verona
Trient, den 11. September, früh.
Nachdem ich völlig funfzig Stunden am Leben und in steter
Beschäftigung gewesen, kam ich gestern abend um acht Uhr hier an,
begab mich bald zur Ruhe und finde mich nun wieder imstande, in
meiner Erzählung fortzufahren. Am Neunten abends, als ich das erste
Stück meines Tagebuchs geschlossen hatte, wollte ich noch die
Herberge, das Posthaus auf dem Brenner, in seiner Lage zeichnen, aber
es gelang nicht, ich verfehlte den Charakter und ging halb verdrießlich
nach Hause. Der Wirt fragte mich, ob ich nicht fort wollte, es sei
Mondenschein und der beste Weg, und ob ich wohl wußte, daß er die
Pferde morgen früh zum Einfahren des Grummets brauchte und bis

dahin gern wieder zu Hause hätte, sein Rat also eigennützig war, so
nahm ich ihn doch, weil er mit meinem innern Triebe übereinstimmte,
als gut an. Die Sonne ließ sich wieder blicken, die Luft war leidlich; ich
packte ein, und um sieben Uhr fuhr ich weg. Die Atmosphäre ward
über die Wolken Herr und der Abend gar schön.
Der Postillon schlief ein, und die Pferde liefen den schnellsten Trab
bergunter, immer auf dem bekannten Wege fort; kamen sie an ein eben
Fleck, so ging es desto langsamer. Der Führer wachte auf und trieb
wieder an, und so kam ich sehr geschwind, zwischen hohen Felsen, an
dem reißenden Etschfluß hinunter. Der Mond ging auf und beleuchtete
ungeheuere Gegenstände. Einige Mühlen zwischen uralten Fichten über
dem schäumenden Strom waren völlige Everdingen.
Als ich um neun Uhr nach Sterzing gelangte, gab man mir zu verstehen,
daß man mich gleich wieder wegwünsche. In Mittenwald Punkt zwölf
Uhr fand ich alles in tiefem Schlafe, außer dem Postillon, und so ging
es weiter auf Brixen, wo man mich wieder gleichsam entführte, so daß
ich mit dem Tage in Kollmann ankam. Die Postillons fuhren, daß
einem Sehen und Hören verging, und so leid es mir tat, diese herrlichen
Gegenden mit der entsetzlichsten Schnelle und bei Nacht wie im Fluge
zu durchreisen, so freuete es mich doch innerlich, daß ein günstiger
Wind hinter mir herblies und mich meinen Wünschen zujagte. Mit
Tagesanbruch erblickte ich die ersten Rebhügel. Eine Frau mit Birnen
und Pfirschen begegnete mir, und so ging es auf Teutschen los, wo ich
um sieben Uhr ankam und gleich weiterbefördert wurde. Nun erblickte
ich endlich bei hohem Sonnenschein, nachdem ich wieder eine Weile
nordwärts gefahren war, das Tal, worin Bozen liegt. Von steilen, bis
auf eine ziemliche Höhe angebauten Bergen umgeben, ist es gegen
Mittag offen, gegen Norden von den Tiroler Bergen gedeckt. Eine
milde, sanfte Luft füllte die Gegend. Hier wendet sich die Etsch wieder
gegen Mittag. Die Hügel am Fuße der Berge sind mit Wein bebaut.
Über lange, niedrige Lauben sind die Stöcke gezogen, die blauen
Trauben hängen gar zierlich von der Decke herunter und reifen an der
Wärme des nahen Bodens. Auch in der Fläche des Tals, wo sonst nur
Wiesen sind, wird der Wein in solchen eng
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