Italienische Reise, vol 1 | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
es dunkler und dunkler, das Einzelne verlor sich, die

Massen wurden immer größer und herrlicher, endlich, da sich alles nur
wie ein tiefes geheimes Bild vor mir bewegte, sah ich auf einmal
wieder die hohen Schneegipfel vom Mond beleuchtet, und nun erwarte
ich, daß der Morgen diese Felsenkluft erhelle, in der ich auf der
Grenzscheide des Südens und Nordens eingeklemmt bin.
Ich füge noch einige Bemerkungen hinzu über die Witterung, die mir
vielleicht ebendeswegen so günstig ist, weil ich ihr so viele
Betrachtungen widme. Auf dem flachen Lande empfängt man gutes
und böses Wetter, wenn es schon fertig geworden, im Gebirge ist man
gegenwärtig, wenn es entsteht. Dieses ist mir nun so oft begegnet,
wenn ich auf Reisen, Spaziergängen, auf der Jagd Tag und Nächte lang
in den Bergwäldern, zwischen Klippen verweilte, und da ist mir eine
Grille aufgestiegen, die ich auch für nichts anders geben will, die ich
aber nicht loswerden kann, wie man denn eben die Grillen am
wenigsten loswird. Ich sehe sie überall, als wenn es eine Wahrheit wäre,
und so will ich sie denn auch aussprechen, da ich ohnehin die
Nachsicht meiner Freunde so oft zu prüfen im Falle bin.
Betrachten wir die Gebirge näher oder ferner und sehen ihre Gipfel
bald im Sonnenscheine glänzen, bald vorn Nebel umzogen, von
stürmenden Wolken umsaust, von Regenstrichen gepeitscht, mit
Schnee bedeckt, so schreiben wir das alles der Atmosphäre zu, da wir
mit Augen ihre Bewegungen und Veränderungen gar wohl sehen und
fassen. Die Gebirge hingegen liegen vor unserm äußeren Sinn in ihrer
herkömmlichen Gestalt unbeweglich da. Wir halten sie für tot, weil sie
erstarrt sind, wir glauben sie untätig, weil sie ruhen. Ich aber kann mich
schon seit längerer Zeit nicht entbrechen, einer innern, stillen,
geheimen Wirkung derselben die Veränderungen, die sich in der
Atmosphäre zeigen, zum großen Teile zuzuschreiben. Ich glaube
nämlich, daß die Masse der Erde überhaupt, und folglich auch
besonders ihre hervorragenden Grundfesten, nicht eine beständige,
immer gleiche Anziehungskraft ausüben, sondern daß diese
Anziehungskraft sich in einem gewissen Pulsieren äußert, so daß sie
sich durch innere notwendige, vielleicht auch äußere zufällige
Ursachen bald vermehrt, bald vermindert. Mögen alle anderen
Versuche, diese Oszillation darzustellen, zu beschränkt und roh sein,

die Atmosphäre ist zart und weit genug, um uns von jenen stillen
Wirkungen zu unterrichten. Vermindert sich jene Anziehungskraft im
geringsten, alsobald deutet uns die verringerte Schwere, die
verminderte Elastizität der Luft diese Wirkung an. Die Atmosphäre
kann die Feuchtigkeit, die in ihr chemisch und mechanisch verteilt war,
nicht mehr tragen, Wolken senken sich, Regen stürzen nieder, und
Regenströme ziehen nach dem Lande zu. Vermehrt aber das Gebirg
seine Schwerkraft, so wird alsobald die Elastizität der Luft
wiederhergestellt, und es entspringen zwei wichtige Phänomene.
Einmal versammeln die Berge ungeheure Wolkenmassen um sich her,
halten sie fest und starr wie zweite Gipfel über sich, bis sie, durch
innern Kampf elektrischer Kräfte bestimmt, als Gewitter, Nebel und
Regen niedergehen, sodann wirkt auf den überrest die elastische Luft,
welche nun wieder mehr Wasser zu fassen, aufzulösen und zu
verarbeiten fähig ist. Ich sah das Aufzehren einer solchen Wolke ganz
deutlich: sie hing um den steilsten Gipfel, das Abendrot beschien sie.
Langsam, langsam sonderten ihre Enden sich ab, einige Flocken
wurden weggezogen und in die Höhe gehoben; diese verschwanden,
und so verschwand die ganze Masse nach und nach und ward vor
meinen Augen wie ein Rocken von einer unsichtbaren Hand ganz
eigentlich abgesponnen.
Wenn die Freunde über den ambulanten Wetterbeobachter und dessen
seltsame Theorien gelächelt haben, so gebe ich ihnen vielleicht durch
einige andere Betrachtungen Gelegenheit zum Lachen, denn ich muß
gestehen, da meine Reise eigentlich eine Flucht war vor allen den
Unbilden, die ich unter dem einundfunfzigsten Grade erlitten, daß ich
Hoffnung hatte, unter dem achtundvierzigsten ein wahres Gosen zu
betreten. Allein ich fand mich getäuscht, wie ich früher hätte wissen
sollen; denn nicht die Polhöhe allein macht Klima und Witterung,
sondern die Bergreihen, besonders jene, die von Morgen nach Abend
die Länder durchschneiden. In diesen ereignen sich immer große
Veränderungen, und nordwärts liegende Länder haben am meisten
darunter zu leiden. So scheint auch die Witterung für den ganzen
Norden diesen Sommer über durch die große Alpenkette, auf der ich
dieses schreibe, bestimmt worden zu sein. Hier hat es die letzten
Monate her immer geregnet, und Südwest und Südost haben den Regen

durchaus nordwärts geführt. In Italien sollen sie schön Wetter, ja zu
trocken gehabt haben.
Nun von dem abhängigen, durch Klima, Berghöhe, Feuchtigkeit auf
das mannigfaltigste bedingten Pflanzenreich einige Worte. Auch hierin
habe ich keine sonderliche Veränderung, doch Gewinn gefunden. Äpfel
und Birnen hängen schon häufig vor Innsbruck in dem Tale, Pfirschen
und Trauben hingegen bringen sie aus Welschland oder vielmehr aus
dem mittägigen Tirol. Um Innsbruck bauen sie viel Türkisch--und
Heidekorn, das sie Blende nennen. Den Brenner herauf sah ich die
ersten Lärchenbäume, bei Schönberg den ersten Zirbel. Ob wohl das
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