Iphigenie auf Tauris | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
diesem wilden Stamme du
entsprangst.
Iphigenie.
Des Altreus aelt'ster Sohn war Agamemnon:
Er ist mein
Vater. Doch ich darf es sagen,
In ihm hab' ich seit meiner ersten Zeit

Ein Muster des vollkommnen Manns gesehn.
Ihm brachte
Klytaemnestra mich, den Erstling
Der Liebe, dann Elektren. Ruhig
herrschte
Der Koenig, und es war dem Hause Tantals
Die lang
entbehrte Rast gewaehrt. Allein
Es mangelte dem Glueck der Eltern
noch
Ein Sohn, und kaum war dieser Wunsch erfuellt,
Dass
zwischen beiden Schwestern nun Orest
Der Liebling wuchs, als neues

uebel schon
Dem sichern Hause zubereitet war.
Der Ruf des
Krieges ist zu euch gekommen,
Der, um den Raub der schoensten
Frau zu raechen,
Die ganze Macht der Fuersten Griechenlands
Um
Trojens Mauern lagerte. Ob sie
Die Stadt gewonnen, ihrer Rache Ziel

Erreicht, vernahm ich nicht. Mein Vater fuehrte
Der Griechen Heer.
In Aulis harrten sie
Auf guenst'gen Wind vergebens: denn Diane,

Erzuernt auf ihren grossen Fuehrer, hielt
Die Eilenden zurueck und
forderte
Durch Kalchas Mund des Koenigs aelt'ste Tochter.
Sie
lockten mit der Mutter mich in's Lager;
Sie rissen mich vor den Altar
und weihten
Der Goettin dieses Haupt. Sie war versoehnt:
Sie
wollte nicht mein Blut und huellte rettend
In eine Wolke mich; in
diesem Tempel
Erkannt ich mich zuerst vom Tode wieder.
Ich bin
es selbst, bin Iphigenie,
Des Altreus Enkel, Agamemnons Tochter,

Der Goettin Eigenthum, die mit dir spricht.
Thoas.
Mehr Vorzug und Vertrauen geb' ich nicht
Der
Koenigstochter als der Unbekannten.
Ich wiederhole meinen ersten
Antrag:
Komm, folge mir, und theile was ich habe.
Iphigenie.
Wie darf ich solchen Schritt, o Koenig, wagen?
Hat nicht
die Goettin, die mich rettete,
Allein das Recht auf mein geweihtes
Leben?
Sie hat fuer mich den Schutzort ausgesucht,
Und sie
bewahrt mich einem Vater, den
Sie durch den Schein genug gestraft,
vielleicht
Zur schoensten Freude seines Alters hier.
Vielleicht ist
mir die frohe Rueckkehr nah;
Und ich, auf ihren Weg nicht achtend,
haette
Mich wider ihren Willen hier gefesselt?
Ein Zeichen bat ich,
wenn ich bleiben sollte.
Thoas.
Das Zeichen ist, dass du noch hier verweilst.
Such'
Ausflucht solcher Art nicht aengstlich auf.

Man spricht vergebens
viel, um zu versagen;
Der andre hoert von allem nur das Nein.
Iphigenie.
Nicht Worte sind es, die nur blenden sollen;
Ich habe dir
mein tiefstes Herz entdeckt.
Und sagst du dir nicht selbst, wie ich

dem Vater,
Der Mutter, den Geschwistern mich entgegen
Mit
aengstlichen Gefuehlen sehnen muss?
Dass in den alten Hallen, wo
die Trauer
Noch manchmal stille meinen Namen lispelt,
Die Freude,
wie um eine Neugeborne,
Den schoensten Kranz von Saeul an
Saeulen schlinge.
O sendetest du mich auf Schiffen hin!
Du gaebest
mir und allen neues Leben.
Thoas.
So kehr' zurueck! Thu' was dein Herz dich heisst,
Und hoere
nicht die Stimme guten Raths
Und der Vernunft. Sei ganz ein Weib
und gib
Dich hin dem Triebe, der dich zuegellos
Ergreift und dahin
oder dorthin reisst.
Wenn ihnen eine Lust im Busen brennt,
Haelt
vom Verraether sie kein heilig Band,
Der sie dem Vater oder dem
Gemahl
Aus langbewaehrten, treuen Armen lockt;
Und schweigt in
ihrer Brust die rasche Gluth,
So dringt auf sie vergebens treu und
maechtig
Der ueberredung goldne Zunge los.
Iphigenie.
Gedenk', o Koenig, deines edeln Wortes!
Willst du mein
Zutraun so erwiedern? Du
Schienst vorbereitet alles zu vernehmen.
Thoas.
Auf's Ungehoffte war ich nicht bereitet;
Doch sollt' ich's
auch erwarten: wusst' ich nicht,
Dass ich mit einem Weibe handeln
ging?
Iphigenie.
Schilt nicht, o Koenig, unser arm Geschlecht.
Nicht
herrlich wie die euern, aber nicht
Unedel sind die Waffen eines
Weibes.
Glaub' es, darin bin ich dir vorzuziehn,
Dass ich dein
Glueck mehr als du selber kenne.
Du waehnest, unbekannt mit dir
und mir,
Ein naeher Band werd' uns zum Glueck vereinen.
Voll
guten Muthes wie voll guten Willens
Dringst du in mich, dass ich
mich fuegen soll;
Und hier dank' ich den Goettern, dass sie mir
Die
Festigkeit gegeben, dieses Buendniss

Nicht einzugehen, das sie nicht
gebilligt.
Thoas.
Es spricht kein Gott; es spricht dein eignes Herz.

Iphigenie.
Sie reden nur durch unser Herz zu uns.
Thoas.
Und hab' Ich, sie zu hoeren, nicht das Recht?
Iphigenie.
Es ueberbraust der Sturm die zarte Stimme.
Thoas.
Die Priesterin vernimmt sie wohl allein?
Iphigenie.
Vor allen andern merke sie der Fuerst.
Thoas.
Dein heilig Amt und dein geerbtes Recht
An Jovis Tisch
bringt dich den Goettern naeher,
Als einen erdgebornen Wilden.
Iphigenie.
So
Buess' ich nun das Vertraun, das du erzwangst.
Thoas.
Ich bin ein Mensch; und besser ist's, wir enden.
So bleibe
denn mein Wort: Sei Priesterin
Der Goettin, wie sie dich erkoren hat;

Doch mir verzeih' Diane, dass ich ihr,
Bisher mit Unrecht und mit
innerm Vorwurf,
Die alten Opfer vorenthalten habe.
Kein Fremder
nahet gluecklich unserm Ufer;
Von Alters her ist ihm der Tod gewiss.

Nur du hast mich mit einer Freundlichkeit,
In der ich bald der
zarten Tochter Liebe,
Bald stille Neigung einer Braut zu sehn
Mich
tief erfreute, wie mit Zauberbanden
Gefesselt, dass ich meiner Pflicht
vergass.
Du hattest mir die Sinnen eingewiegt,
Das Murren meines
Volks vernahm ich nicht;
Nun rufen sie die Schuld von meines
Sohnes
Fruehzeit'gem Tode lauter ueber mich.
Um deinetwillen
halt' ich laenger nicht
Die Menge, die das Opfer dringend fordert.
Iphigenie.
Um meinetwillen hab ich's nie begehrt.
Der missversteht
die Himmlischen, der sie
Blutgierig waehnt; er dichtet ihnen nur

Dir eignen grausamen Begierden an.
Entzog die Goettin mich nicht
selbst dem Priester?
Ihr war mein Dienst willkommner, als mein Tod.

Thoas.
Es ziemt sich nicht fuer uns, den heiligen
Gebrauch mit
leicht beweglicher Vernunft
Nach unserm Sinn zu deuten und zu
lenken.
Thu' deine
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