Iphigenie auf Tauris | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
frommen kann,?Und schaut der Zukunft ausgedehntes Reich,?Wenn jedes Abends Stern- und Nebelhuelle?Die Aussicht uns verdeckt. Gelassen hoert?Ihr unser Flehn, das um Beschleunigung?Euch kindisch bittet; aber eure Hand?Bricht unreif nie die goldnen Himmelsfruechte;?Und wehe dem, der ungeduldig sie?Ertrotzend saure Speise sich zum Tod?Geniesst. O lasst das lang erwartete,?Noch kaum gedachte Glueck nicht, wie den Schatten?Des abgeschiednen Freundes, eitel mir?Und dreifach schmerzlicher voruebergehn!
Orest (tritt wieder zu ihr).?Rufst du die Goetter an fuer dich und Pylades,?So nenne meinen Namen nicht mit eurem.?Du rettest den Verbrecher nicht, zu dem?Du dich gesellst, und theilest Fluch und Noth.
Iphigenie.?Mein Schicksal ist an deines fest gebunden.
Orest.?Mit nichten! Lass allein und unbegleitet?Mich zu den Todten gehn. Verhuelltest du?In deinen Schleier selbst den Schuldigen;?Du birgst ihn nicht vor'm Blick der Immerwachen,?Und deine Gegenwart, du Himmlische,?Draengt sie nur seitwaerts und verscheucht sie nicht.?Sie duerfen mit den ehrnen frechen Fuessen?Des heil'gen Waldes Boden nicht betreten;?Doch hoer' ich aus der Ferne hier und da?Ihr graessliches Gelaechter. Woelfe harren?So um den Baum, auf den ein Reisender?Sich rettete. Da draussen ruhen sie?Gelagert; und verlass' ich diesen Hain,?Dann steigen sie, die Schlangenhaeupter schuettelnd,?Von allen Seiten Staub erregend auf?Und treiben ihre Beute vor sich her.
Iphigenie.?Kannst du, Orest, ein freundlich Wort vernehmen?
Orest.?Spar' es fuer einen Freund der Goetter auf.
Iphigenie.?Sie geben dir zu neuer Hoffnung Licht.
Orest.?Durch Rauch und Qualm seh' ich den matten Schein?Des Todtenflusses mir zur Hoelle leuchten.
Iphigenie.?Hast du Elektren, Eine Schwester nur?
Orest.?Die Eine kannt' ich; doch die aelt'ste nahm?Ihr gut Geschick, das uns so schrecklich schien,?Bei Zeiten aus dem Elend unsers Hauses.?O lass dein Fragen, und geselle dich?Nicht auch zu den Erinnyen; sie blasen?Mir schadenfroh die Asche von der Seele,?Und leiden nicht, dass sich die letzten Kohlen?Von unsers Hauses Schreckensbrande still?In mir verglimmen. Soll die Gluth denn ewig,?Vorsaetzlich angefacht, mit Hoellenschwefel?Genaehrt, mir auf der Seele marternd brennen?
Iphigenie.?Ich bringe suesses Rauchwerk in die Flamme.?O lass den reinen Hauch der Liebe dir?Die Gluth des Busens leise wehend kuehlen.?Orest, mein Theurer, kannst du nicht vernehmen??Hat das Geleit der Schreckensgoetter so?Das Blut in deinen Adern aufgetrocknet??Schleicht, wie vom Haupt der graesslichen Gorgone,?Versteinernd dir ein Zauber durch die Glieder??O wenn vergoss'nen Mutterblutes Stimme?Zur Hoell' hinab mit dumpfen Toenen ruft;?Soll nicht der reinen Schwester Segenswort?Huelfreiche Goetter von Olympus rufen?
Orest.?Es ruft! es ruft! So willst du mein Verderben!?Verbirgt in dir sich eine Rachegoettin??Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich?Das Innerste in seinen Tiefen wendet?
Iphigenie.?Es zeigt sich dir im tiefsten Herzen an:?Orest, ich bin's! Sieh Iphigenien!?Ich lebe!
Orest.
Du!
Iphigenie.
Mein Bruder!
Orest.
Lass! Hinweg!?Ich rathe dir, beruehre nicht die Locken!?Wie von Kreusa's Brautkleid zuendet sich?Ein unausloeschlich Feuer von mir fort.?Lass mich! Wie Hercules will ich Unwuerd'ger?Den Tod voll Schmach, in mich verschlossen, sterben.
Iphigenie.?Du wirst nicht untergehn! O dass ich nur?Ein ruhig Wort von dir vernehmen koennte!?O loese meine Zweifel, lass des Glueckes,?Des lang erflehten, mich auch sicher werden.?Es waelzet sich ein Rad von Freud' und Schmerz?Durch meine Seele. Von dem fremden Manne?Entfernet mich ein Schauer; doch es reisst?Mein Innerstes gewaltig mich zum Bruder.
Orest.?Ist hier Lyaeens Tempel? und ergreift?Unbaendig-heil'ge Wuth die Priesterin?
Iphigenie.?O hoere mich! O sieh mich an, wie mir?Nach einer langen Zeit das Herz sich oeffnet,?Der Seligkeit, dem Liebsten, was die Welt?Noch fuer mich tragen kann, das Haupt zu kuessen,?Mit meinen Armen, die den leeren Winden?Nur ausgebreitet waren, dich zu fassen!?O lass mich! Lass mich! Denn es quillet heller?Nicht vom Parnass die ew'ge Quelle sprudelnd?Von Fels zu Fels in's goldne Thal hinab,?Wie Freude mir vom Herzen wallend fliesst,?Und wie ein selig Meer mich rings umfaengt.?Orest! Orest! Mein Bruder!
Orest.
Schoene Nymphe,?Ich traue dir und deinem Schmeicheln nicht.?Diana fordert strenge Dienerinnen?Und raechet das entweihte Heiligthum.?Entferne deinen Arm von meiner Brust!?Und wenn du einen Juengling rettend lieben,?Das schoene Glueck ihm zaertlich bieten willst,?So wende meinem Freunde dein Gemueth,?Dem wuerd'gern Manne zu. Er irrt umher?Auf jenem Felsenpfade; such' ihn auf,?Weis' ihn zurecht und schone meiner.
Iphigenie.
Fasse?Dich, Bruder, und erkenne die Gefundne!?Schilt einer Schwester reine Himmelsfreude?Nicht unbesonnene, strafbare Lust.?O nehmt den Wahn ihm von dem starren Auge,?Dass uns der Augenblick der hoechsten Freude?Nicht dreifach elend mache! Sie ist hier,?Die laengst verlorne Schwester. Vom Altar?Riss mich die Goettin weg und rettete?Hierher mich in ihr eigen Heiligthum.?Gefangen bist du, dargestellt zum Opfer,?Und findest in der Priesterin die Schwester.
Orest.?Unselige! So mag die Sonne denn?Die letzten Graeuel unsers Hauses sehn!?Ist nicht Elektra hier? damit auch sie?Mit uns zu Grunde gehe, nicht ihr Leben?Zu schwererem Geschick und Leiden friste.?Gut, Priesterin! Ich folge zum Altar:?Der Brudermord ist hergebrachte Sitte?Des alten Stammes; und ich danke, Goetter,?Dass ihr mich ohne Kinder auszurotten?Beschlossen habt. Und lass dir rathen, habe?Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;?Komm, folge mir in's dunkle Reich hinab!?Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen?Bekaempfend die verwandte Brut verschlingen,?Zerstoert sich selbst das wuethende Geschlect;?Komm kinderlos und schuldlos mit hinab!?Du siehst mich mit Erbarmen an? Lass ab!?Mit solchen Blicken suchte Klytaemnestra?Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen;?Doch sein geschwungner Arm traf ihre Brust.?Die Mutter fiel!--Tritt auf, unwill'ger Geist!?Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien,?Und wohnet dem willkommnen Schauspiel bei,?Dem letzten, graesslichsten, das ihr bereitet!?Nicht
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