Im Sonnenschein | Page 4

Theodor W. Storm
Großvaters Schwester, -- sie waren
lange tot, er hatte sie nicht gekannt. Nun ließ er seine Augen von einem
zum andern gehen, wie er schon oft getan, wenn er mit der Großmutter
in der stillen Nachmittagsstunde beisammensaß. Auf Tante Fränzchens
Bilde schienen die Farben am wenigsten verblichen, obwohl sie vor
den Eltern und lange vor dem Bruder gestorben war. Die rote Rose in
der weißen Puderfrisur war noch wie frisch gepflückt; auf der
amarantfarbenen Kontusche zeichnete sich deutlich ein blaues
Medaillon, das an einem dunklen Bande vom Halse auf die Brust
herabhing. Der Enkel konnte nicht die Augen wenden von diesen
kargen Spuren eines dahingegangenen Lebens; er blickte fast mit
Inbrunst in das feine blasse Gesichtchen. Der Garten, wie er ihn als

Knabe noch gesehen, trat vor seine Phantasie; er sah sie darin wandeln
zwischen den seltsamen Buchsbaumzügen; er hörte das Knistern ihres
Schuhes auf den Muschelsteigen, das Rauschen ihres Kleides. Aber die
Gestalt, die er so heraufbeschworen, blieb allein, gebannt in dem
grünen Fleckchen, das vor seinem inneren Auge stand. Was sich um die
Lebende einst mochte bewegt haben: ihre Gespielinnen, die Töchter
aus den alten finsteren Patrizierhäusern, der Freund, der nach ihr spähte
zwischen den Büschen des Gartens, hatte er keine Macht ihr zu
gesellen. »Wer weiß von ihnen!« sprach er vor sich hin; das kleine
Medaillon war ihm wie ein Siegel auf der Brust des vor so langer Zeit
verstorbenen Mädchens.
Die Großmutter setzte die Tasse auf die Fensterbank; sie hatte ihn
sprechen hören. »Bist du in unsrer Gruft gewesen, Martin?« fragte sie,
»und sind die Reparaturen bald zustande?«
»Ja, Großmutter.«
-- »Es muß alles in Ordnung sein; wir haben in unsrer Familie immer
auf Reputation gehalten.«
»Es wird alles in Ordnung kommen,« sagte der Enkel, »aber es ist ein
Sarg eingestürzt; das hat ein Aufschub gegeben.«
-- »Sind denn die Eisenstangen abgerostet?«
»Das nicht. Er stand zu hinterst neben dem Gitter; das Wasser ist darauf
getropft.«
-- »Das muß Tante Fränzchen sein,« sagte die Großmutter nach
einigem Besinnen. -- »Lag denn ein Kranz darauf?«
Martin sah die Großmutter an. »Ein Kranz? -- -- Ich weiß es nicht; er
mag auch wohl vergangen sein.«
Die Greisin nickte langsam mit dem Kopf und sah eine Weile
schweigend vor sich hin. »Ja, ja!« sagte sie dann, fast wie beschämt,
»es ist nun freilich schon über fünfzig Jahre her, daß sie begraben

wurde. Ihr Fächer, der mit Schmelz und Flitter, liegt noch drüben im
Saal in der Spiegelkommode; ich habe ihn aber gestern nicht finden
können.«
Der Enkel vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Die
Großmutter bemerkte es und sagte: »Deine Braut, der Wildfang, ist mir
wohl wieder über meinem Kram gewesen. Ihr sollt mir das nicht zu
euren Possen gebrauchen!«
»Aber, Großmutter, wie sie neulich abends in deinem Reifrock durch
den Garten promenierte -- ihr wäret alle eifersüchtig geworden, wenn
sie anno Neunzig so in eure Laube getreten wäre.«
-- »Du bist ein eitler Junge, Martin!«
»Freilich,« fuhr er fort, »die fremden braunen Augen hat sie nun einmal;
die kommen jetzt ohne Gnade in die Familie!«
-- »Nun, nun!« sagte die Großmutter, »die braunen Augen sind schon
gut, wenn nur ein gutes Herz herausschaut. -- Aber den Fächer soll sie
mir in Ehren halten! Tante Fränzchen trug ihn auf deines Großvaters
Hochzeit, und mich dünkt, ich sehe sie noch mit der dunkelroten Rose
in den Haaren. Nachher hat sie dann nicht gar lange mehr gelebt. -- Es
war eine große Liebe zwischen den Geschwistern; sie hat ihrem Bruder
dazumalen auch ihr Porträt geschenkt, und dein Großvater hat es, so
lange er lebte, bei sich in seiner Schreibschatulle gehabt. -- Später
hingen wir es denn hierher, zu ihm und zu den Eltern.«
»Sie ist wohl schön gewesen, Großmutter?« fragte der Enkel, indem er
nach dem Bilde hinüberblickte.
Die Großmutter schien ihn nur halb zu hören. »Sie war ein kluges
Frauenzimmer,« sagte sie, »und sehr geschickt in der Feder. Während
dein Großvater in Marseille war, und auch wohl später noch, hat sie
dem alten Vater alle Jahre die Klosterrechnungen ausgeschrieben; denn
er war Klostervorsteher und dann Ratsverwalter, ehe er zweiter
Bürgermeister wurde. -- Sie hatte auch eine schlanke,
wohlproportionierte Figur, und dein Großvater pflegte sie wohl mit

ihren feinen Händen zu necken; aber heiraten hat sie niemalen wollen.«
»Gab es denn derzeit keine jungen Männer in der Stadt, oder haben ihr
die Freier nicht gefallen?«
»Das,« sagte die Großmutter, indem sie mit den Händen über ihren
Schoß strich, »das, mein liebes Kind, hat sie mit sich in ihr Grab
genommen. -- Man sagte wohl, sie hab' einmal einen leiden können; --
Gott mag es wissen! Es war ein Freund deines Großvaters und ein
reputierlicher Mensch. Aber er war Offizier und Edelmann; und dein
Urgroßvater war immer sehr gegen das Militär. -- Auf deines
Großvaters Hochzeit tanzten sie miteinander, und ich erinnere mich
wohl, sie
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