Im Schatten der Titanen | Page 7

Lily Braun
sind," so heißt es darin, "das ist nicht wahr. Sie
erwarten vielmehr mit Ungeduld, daß ein jeder, den das Talent dazu
befähigt, -- nicht nur der Adlige --, zu jeder Stellung Zugang finden
kann, daß jede Form der Dienstbarkeit und Abhängigkeit ein für
allemal abgeschafft werde. Ich baue, was die Sicherung Deiner
Monarchie betrifft, weit mehr auf die Folgen dieser Maßregeln, als auf
die Resultate großer Eroberungen. Dein Volk muß sich einer Freiheit,
einer Gleichheit, eines Rechtsschutzes erfreuen, die in Deutschland
nicht ihresgleichen haben. Diese Art, zu regieren, wird zwischen Dir
und Preußen eine zuverlässigere Grenzscheide bilden als die Elbe, als
Frankreichs Festungen und sein Schutz. Welches Volk, das die
Segnungen einer liberalen Herrschaft kennen gelernt hat, wird in die

Bande des Absolutismus zurückkehren wollen? Sei darum ein
konstitutioneller König. Du schaffst Dir damit ein natürliches
Übergewicht über Deine Nachbarn."[14]
In den Empfindungen der großen Masse des Volkes schien sich
Napoleon nicht zu täuschen. Mochte der Bruder des Korsen ihm fremd
erscheinen, seine Person ihm zunächst gleichgültig, vielleicht sogar
antipathisch sein, es begrüßte in ihm den endlichen, heißersehnten
Frieden, geordnete Verhältnisse, gesicherte wirtschaftliche
Entwicklung.[15] Darum war sein Empfang ein überraschend freudiger,
den die persönliche Freundlichkeit des Herrscherpaares nur noch
steigern konnte. Die Proklamation des Königs, vor der in jedem Dorf
des Landes sich die Neugierigen sammelten, verhieß die Sicherstellung
der Konstitution, die Abschaffung der Adels- und Kirchenprivilegien,
der Leibeigenschaft und aller Personaldienste, die Gleichheit vor dem
Gesetz, die Gleichberechtigung aller Religionsbekenntnisse, die
Aufhebung der Sonderstellung der Juden, die Neuordnung des
Gerichtsverfahrens. "Lange genug hat Euer Land unter den Vorrechten
des Adels und den Intriguen der Fürsten gelitten. Alle Leiden der
Kriege mußtet Ihr tragen, von den Segnungen des Friedens bliebt Ihr
ausgeschlossen. Einige Eurer Städte erwarben die unfruchtbare Ehre,
daß Verträge und Traktate in ihren Mauern geschlossen wurden, in
denen nichts vergessen war, als das Schicksal des Volkes, das sie
bewohnte."[16] War dies nicht ein Widerhall der Prinzipien von 1789,
unter deren Einfluß das neue Frankreich sich entwickelt hatte, und
deren Verwirklichung in Deutschland an der Ohnmacht des Volkes und
der Macht der Fürsten gescheitert war? Sie bedeuteten diesmal mehr,
als Fürstenproklamationen und Versprechungen sonst zu bedeuten
hatten. Küster, der Geschäftsträger Preußens in Westfalen, der dem
Berliner Hof regelmäßig Bericht zu erstatten hatte und neben dem
Grafen Reinhard, dem Bevollmächtigten Napoleons und geistvollen
Korrespondenten Goethes, der zweifelfreieste Zeuge war, sah mit
Erstaunen, wie rasch die neuen Einrichtungen Wurzel zu fassen
vermochten. Weite Kreise der Bevölkerung empfanden die Regierung
Jeromes als einen Fortschritt gegenüber den alten Zuständen; die
Gebildeten, von deren Unhaltbarkeit längst überzeugt, freuten sich der
neuen freiheitlichen Einrichtungen; Kaufleute und Handwerker sahen

sich besonders durch sie gefördert. "Was mir aber das meiste
Vergnügen macht," schrieb Küster am 21. November 1808 nach Berlin,
"ist, in der Lage zu sein, dem Gange einer aufgeklärten und gerechten
Verwaltung folgen zu können, welche auf einer glücklichen
Konstitution sich aufbaut. Sie entwickelt sich mehr und mehr durch die
sukzessive Organisation aller ihrer Hauptzweige, und es ist nicht
zweifelhaft, daß dieser neue Staat, dessen Souverän nur das Gute will,
und zwar mit Bedacht und doch mit Entschlossenheit -- bald zu einem
hohen Grad der Vollkommenheit und des öffentlichen Glücks gelangen
wird."[17] In einem späteren Brief rühmt er die Einfachheit und
Schnelligkeit in der Verwaltung, berichtet von dem praktischen Wert
des durch den König geschaffenen Zentralbureaus für
Armenunterstützung in Kassel und sagt von ihm, daß er von den
regierenden Brüdern des Königs die meiste Energie und den meisten
eigenen Willen besitze.[18]
Gerade das aber, was ihn auszeichnete, war das Unglück Jeromes. Ein
eigener Wille war jene Eigenschaft, die Napoleon bei seinen Brüdern
am wenigsten brauchen konnte, und Energie konnte nur dort am Platze
sein, wo etwas Wichtiges durchzusetzen, etwas Wertvolles zu erreichen
war. Jerome lag es am Herzen, seinem Lande ein guter König zu sein;
ihn verlangte danach, von dem ganzen Stolz seines Geschlechts beseelt,
zu beweisen, daß er es aus eigener Kraft sein konnte. Aber seine
Absichten stießen auf unüberwindliche Widerstände und wurden durch
die Pläne des Kaisers durchkreuzt.
Offiziell hatte seine Regierung mit dem Einzug in Kassel begonnen,
aber der Kampf mit den finanziellen Schwierigkeiten hatte bereits zwei
Monate früher angefangen. Auf dem Papier war ihm freilich eine
Zivilliste von fünf Millionen zugesichert worden, in Wirklichkeit aber
war der Staatsschatz durch Kriegsabgaben, durch die Lasten, die die
Okkupation durch französische Truppen dem Lande auferlegt hatte,
vollkommen erschöpft, und um allein die Kosten für die Einrichtung
des Hofes, die Reise nach Westfalen und den feierlichen Einzug
bestreiten zu können, mußte Jerome ein Darlehn aufnehmen.[19] Die
traurigsten Verhältnisse fand er vor, als er einzog. Selbst für ihn
persönlich war die Lage eine äußerst beschränkte: er, der gewöhnt war,

rückhaltlos aus dem vollen zu leben, der von einem Kaiserhofe kam,
wo Luxus als etwas Selbstverständliches erschien, der seine Freunde
und Untergebenen, noch ehe er ein König war, königlich zu belohnen
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