IMAGINÄRE BRÜCKEN | Page 9

Jakob Wasserman
Abzeichen seiner Kaste trug, viel leichter, gewisse Kulturideale, oder besser gesagt, modische Ideale durchzuführen und als gang und g?be festzuhalten. Modische Ideale haben wir nicht mehr, weil wir von vornherein entschlossen sind, in nichts, was mit dem Ideal zusammenh?ngt, Konzessionen zu machen. Deswegen kann die Liebe keine gesellschaftliche übereinkunft mehr sein, deswegen auch hat sie keine gesellschaftliche Abgrenzung mehr. Es haben sich die Grenzen verschoben, nach au?en und nach innen. Nach au?en und nach innen ist alles komplizierter geworden; oder sagen wir: verfeinerter, oder: verschwiegener. Ehemals begehrte man in einem Liebesverh?ltnis die Person des Liebenden oder Geliebten, jetzt begehrt man mehr, n?mlich die Pers?nlichkeit.?
?Modische Ideale oder andere Ideale, darnach frag ich nicht?, entgegnete Faustina lebhaft. ?Ideale aufzustellen, in dieser Besch?ftigung habt ihr es freilich zu einer gewissen Handfertigkeit gebracht. Aber die Sache scheint mir die, da? zwischen Ideal und Wirklichkeit eine so ungeheure Entfernung ist, da? die beiden schon gar nichts mehr miteinander gemein haben. Da ist kein Weg, keine Brücke. Es ist, als riefe man mir zu: geh nach dem Mond. Es war der Vorzug vergangener Zeiten, da? sie realisierbare Ideale hatten.?
?Hei?t denn das schon ein Ideal realisieren, wenn man imstande ist, sich gesellschaftlich mitzuteilen oder selbst hinzugeben?? erwiderte ich. ?Konversation fordert Leichtigkeit; die allerdings fehlt uns. Sie setzt ein Interesse für vieles voraus, wofür Teilnahme zu heucheln uns gar nicht mehr einf?llt. Wir würden es abgeschmackt finden, über die Liebe und ihre verschiedenen Arten zu philosophieren. Unsere Zeit ist nach jeder Richtung hin monologisch gestimmt. Gesteigerte Anschauung und ein erh?hter Respekt verhindern uns durchaus, über das Bedeutungsvolle gewisser Lebensfragen zu sprechen. Wo wir uns sympathisch erfa?t sehen, glauben wir eine Er?rterung darüber entbehren zu k?nnen; ganz mit Recht. Ich m?chte sagen, wir verkehren unter tieferen Voraussetzungen miteinander. Ist Ihnen denn nicht auch im Grunde jede Ankündigung eines Gefühls ein Greuel? Finden Sie denn nicht auch die ganze Phraseologie der Liebe von Anno dazumal l?cherlich und aufdringlich? Kribbelt es Ihnen nicht in den Fingern, wenn der Liebhaber auf dem Theater seine Liebeserkl?rung vom Stapel l??t??
?Ach ja, das sind Geschmackssachen?, versetzte Faustina. ?Geschmack, das lasse ich gelten, Verfeinerung ist mir zuwider. Die Scham seiner Gefühle haben, sch?n. Aber noch sch?ner ist es, dünkt mich, den Mut seiner Gefühle haben. Wenn Sie mir den Punkt angeben k?nnen, wo eines aufh?rt und das andere anf?ngt, ich meine, wo die Feigheit aufh?rt und die Verantwortlichkeit anf?ngt, dann will ich mich zufrieden geben. Aber dazu werden alle Waffen Ihrer Rabulistik nicht ausreichen.?
?M?glich. Man kann ja überhaupt nicht streiten, wenn man nicht derselben Meinung ist.?
?Wie? kann man nur streiten, wenn man derselben Meinung ist??
?Gewi?; im Grunde gewi?.?
?Gro?artig! Ein wildes Paradox!? Faustina lachte, was ihrem Gesicht einen entzückenden Reiz verlieh. ?Aber wir verstehen uns am Ende doch?, fuhr sie fort. ?Sie kennen sicherlich die arabische Erz?hlung vom Sklaven der Liebe; ist es nicht ergreifend, wie der sch?ne Jüngling unter der Gewalt seiner Sehnsucht hinsinkt, als ob ihn eine t?dliche Krankheit erfa?t h?tte? Oder da las ich neulich die Geschichte von Raimundus Lullus, der am Hof des K?nigs von Arragon ein ausschweifendes Leben führte, bis ihn pl?tzlich eine glühende Leidenschaft zu der sch?nen Ambrosia de Castello packte. Eines Tages l??t ihn die Dame in ihr Gemach kommen, enthüllt sich ihm, und es zeigt sich, da? sie durch einen furchtbaren Brustkrebs dem Tod verfallen ist. Raimundus, bis ins Innerste erschüttert, weiht sich einem Leben v?lliger Keuschheit. Doch wozu Beispiele; vielleicht beweisen Beispiele nichts. Ich sehe freilich darin Kundgebungen edler Leidenschaft. Dieser Raimundus Lullus etwa, ich nenne gerade ihn, obwohl es auf Namen hier nicht ankommt, er lebte in seiner Liebe wie die atmende Kreatur in der Luft. Es gab für ihn nicht anderes au?er seiner Liebe. Er war in der Liebe, er war von Liebe besessen, ein Besessener war er. Ich habe niemals einen von Liebe Besessenen gefunden. Viele besa?en die Liebe, das wohl, aber von ihr besessen waren sie nicht. Solche fand ich, die vom Spiel besessen waren, vom Geld, vom Ehrgeiz, von Wollust, aber von Liebe Besessene fand ich nicht.?
?Wenn Sie Umschau halten, Faustina?, fiel ich ihr ins Wort, ?k?nnen Sie zu jeder Zeit und wo immer es auch w?re, Handlungen von der gleichen Bedeutung und Intensit?t gewahren. Wir führen eine zu abgeschlossene Existenz, als da? Sinn und Motiv ihrer einzelnen Vorg?nge zu jeder Stunde offenbar oder handgreiflich zu nehmen w?ren. Es ist nichts einf?ltig genug, es ist alles zu vielf?ltig, zu weitschichtig, als da? man durch anekdotische Belege imponieren k?nnte. Selten hat ein Ereignis Anfang und Ende für uns, selten l??t es sich als Anekdote fassen, noch seltener ein ganzes Leben. Ja, es ist alles unfa?bar, unendlich, alles auch scheinbar ohne Stichh?ltigkeit oder ohne Konsequenz, und doch, wenn man hinfühlt, wenn man im Nerv der Dinge lebt, von tiefstem Belang.?
?Aha, Sie spielen schon wieder auf das Geheimnis an. Es l??t mich kalt, Ihr Geheimnis, es
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