IMAGINÄRE BRÜCKEN | Page 2

Jakob Wasserman
verrieten, eben weil sie bezahlt wurden.
Andere werden sagen: darum, weil ein tiefbedachtes, raffiniertes und uraltes System von Einschüchterung, Bet?ubung und Verdummung die Masse der Unterdrückten in Bann gehalten hat, und weil zudem die Sorge für den Tag, die dringende Notwendigkeit, Obdach, Nahrung und Kleidung zu beschaffen, den gr??ten Teil der verfügbaren Kr?fte absorbierte.
Es ist ein Stück der Wahrheit, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Es ist die ?u?erliche Wahrheit, aber nicht die innere.
Nehmen wir an, es f?nde heute eine vollkommen gerechte und gleichm??ige Verteilung aller vorhandenen Güter statt, beweglichen und unbeweglichen; jedem w?re so die Unabh?ngigkeit gesichert, die Arbeitsfreiwilligkeit, die M?glichkeit, seinen Anteil nach seinen Gaben und Kr?ften nutzbar zu machen. Dieser paradiesische Zustand würde genau so lange dauern wie ein Tüchtiger braucht, um einen Tr?gen aus dem Feld zu schlagen, ein Listiger, um einen Dummkopf zu betrügen, ein Glückspilz, um über einen Pechvogel zu triumphieren, eine talentvolle und feurige Pers?nlichkeit, um Anh?nger für eine Sache oder Idee zu gewinnen, der sie sich versprochen hat.
Da? in der von Menschen (so wie Menschen einmal sind) bev?lkerten Welt eine Besitznivellierung stattfinden kann, halte ich für denkbar, obgleich ich fürchte, da? sie ohne Raub, Bedrückung, Gewalt und Ungerechtigkeit nicht durchzuführen ist. Da? sie aber auch nur auf kurze Dauer rechnen kann, halte ich bei einer Gemeinschaft, die nicht ausschlie?lich aus Ackerbauern, Fischern, J?gern und Viehzüchtern besteht, für undenkbar. Und auch hier würden sich die Schlauen, die T?tigen, die Erfinderischen bald absondern, und Herren würden Sklaven finden. Eine Binsenweisheit im übrigen.
Freilich, die Forderung, die eine verzweifelte Kaste von allzulange h?rig Gewesenen erhebt, ist auf den katastrophalen Moment dieser Epoche gestellt; sie lautet: Anrecht auf das Lebensmindeste. Die Ungleichheit hat den Charakter krankhafter, ja verbrecherischer Hypertrophie erreicht. Das über und über geh?ufte Mehr auf jener Seite soll abgetragen werden zu gunsten derer, die das Mindeste entbehren. Ich wei? nicht, wie das geschehen soll, ich wei? nicht, ob es geschehen kann, auf eine vernünftige, ersprie?liche, rettungversprechende Art n?mlich. Da? es wichtig, da? es würdig und menschlich w?re, wenn es gesch?he, wei? ich, auch wenn mir die Sachverst?ndigen mit klugen und wahrscheinlichen Berechnungen vor Augen führen, da? es den Zusammenbruch der gegenw?rtigen Gesellschaft bedeute, und sich dieser in Ru?land ja bereits vollzogen habe. Kein Bestand irgendeiner Ordnung vermag dafür zu entsch?digen, da? lebendige Seelen dadurch zugrunde gehen, da? sie besteht.
Es fragt sich nur, ob sie gerade dadurch zugrunde gehen. Eine Wut der Materie hat sich des Zeitalters bem?chtigt, die gegen alle Einflüsse des Geistes, der Seele, des Schicksals blind macht. Kurzfristige Nutzanwendung wirft überall die Logik der Dinge und der Geschehnisse aus der Bahn. Forderung überschreit Entwicklung und Gesetz. Ein Hexentanz der Zahl ist im Schwange, der Praktiken und der Theorien, beide gleich seicht und unfruchtbar. Jeder steht beziehungslos zu sich selbst, in einer durch die Materie getrübten Beziehung zum andern und zur Welt, abgetrennt vom sittlichen Verlauf, weil v?llig geblendet oder erschreckt vom sinnlichen. Niemand will zu einer Sache geboren sein, alle wollen sich ihrer bem?chtigen.
Jede T?tigkeit, wie jede Errungenschaft, hat ihre unverbrüchliche Legitimit?t. Diese Legitimit?t ruht nicht in der Materie, sondern im Geiste.
Die Drohnen seien preisgegeben. Fluch dem Leben und Andenken der gierigen und unempfindlichen Raffer und W?chter toten Eigentums, die das Blut schaffender Geschlechter vergiftet haben. Die denkfaul und achselzuckend sich auf die gottgewollte Institution beriefen, wenn die Lohnsklaven im Dunst der Schwefelgruben erstickten, wenn schlagende Wetter ihre Leichname zerfetzten, wenn der Hunger sie zur Selbsterniedrigung zwang; die sich in ihren gesicherten Asylen verschanzten, beschützt von Polizei und Milit?r, wenn die Not zu ihnen schrie, das tausendf?ltige Elend der St?dte sich verzweifelnd erhob, der tausendf?ltige Schmerz seine fahlen Züge zeigte. Wehe den Aktienparasiten, den gelangweilten Mü?igg?ngern, den Spielern mit Menschenseelen und Wucherern mit Menschenkr?ften, den Petrefakten und dem schillernden Geschmei? einer untergehenden Welt!
Aber diese Sch?dlichen und Hinderlichen haben und hatten von jeher im Lager der Armen und Geknechteten ein unabsehbares Heer von Lakaien, Agenten, Anw?lten, Profitmachern, Kulis, bestochenen und ergebenen Kreaturen, die, gef?llig jedem Wink, auf das Ertr?gnis ihrer Dienste angewiesen, in Schranken gehalten durch die Stimme des Eigennutzes, zitternd vor der Macht- und Rachebefugnis ihrer Auftraggeber, durch die Zwangsmittel des Staates zum Gehorsam, die nach wirkende Zucht der Kirche und der Schule zur Indolenz und Scheinüberzeugung gebracht, stützendes Element auf der einen, hemmendes auf der andern Seite der Linie waren.
Daraus jedoch schlie?en zu wollen, als h?tte die Stabilit?t der bisherigen Gesellschaftsverfassung nur in unreinen Gesinnungen und niedrigen Interessen, in der Tr?gheit und Knechtseligkeit der Massen ihre Ursache, hie?e der billigen Demagogie das Wort reden, die heute die Stra?e und die politische Schaubühne beherrscht und die die menschliche Natur und das Wissen von ihr entweder berechnend ausschaltet oder sie überhaupt nicht in den Bereich der Argumente zu ziehen vermag. Was ebenfalls ein Merkmal geistigen Abstiegs ist.
II
Dem Menschen, sei er, wer er sei und wie er sei, gut oder b?se, ist Achtung vor dem
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