Heidi kann brauchen, was es gelernt hat | Page 8

Johanna Spyri
Das Tuch legte es ihr auf die Knie.
»Es ist alles aus Frankfurt, von der Klara und der Großmama«,
berichtete es der hocherstaunten Großmutter und der verwunderten
Brigitte, der die Überraschung so in die Glieder gefahren war, daß sie
unbeweglich zugeschaut hatte, wie das Heidi mit der größten

Anstrengung die schweren Gegenstände hereingeschleppt und nun alles
vor ihren Augen ausgebreitet hatte.
»Aber gelt, Großmutter, die Kuchen freuen dich furchtbar stark? Sieh
nur, wie weich sie sind!« rief das Heidi immer wieder, und die
Großmutter bestätigte: »Ja, ja, gewiß, Heidi, was sind das auch für gute
Leute!« Dann strich sie wieder mit der Hand über das warme, weiche
Tuch und sagte: »Aber das ist etwas Herrliches für den kalten Winter!
Das ist etwas so Prächtiges, daß ich nie geglaubt hätte, ich könnte in
meinem Leben dazu kommen.«
Das Heidi aber mußte sich sehr verwundern, daß die Großmutter an
dem grauen Tuch noch mehr Freude haben konnte als an den Kuchen.
Die Brigitte stand immer noch vor der Wurst, die auf dem Tische lag,
und schaute sie fast mit Verehrung an. In ihrem ganzen Leben hatte sie
nie eine solche Riesenwurst gesehen, und diese sollte sie nun selbst
besitzen und einmal sogar anschneiden; das kam ihr unglaublich vor.
Sie schüttelte den Kopf und sagte zaghaft: »Man wird doch noch den
Öhi fragen müssen, wie das gemeint sei.«
Aber das Heidi sagte ganz ohne Zweifel:
»Das ist zum Essen gemeint und gar nicht anders.«
Jetzt kam der Peter hereingestolpert: »Der Almöhi kommt hinter mir
drein, das Heidi soll...«; er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke
waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte
ihn so überwältigt, daß er kein Wort mehr fand. Aber das Heidi hatte
schon gemerkt, was kommen sollte, und gab schnell der Großmutter die
Hand. Der Almöhi ging zwar jetzt nie mehr an der Hütte vorbei, ohne
schnell hereinzutreten und die Großmutter zu grüßen, und sie freute
sich auch immer, wenn sie seinen Schritt hörte, denn er hatte jedesmal
ein ermunterndes Wort für sie; aber heute war es spät geworden für das
Heidi, das alle Morgen mit der Sonne draußen war. Der Großvater aber
sagte: »Das Kind muß seinen Schlaf haben«, und dabei blieb er. So rief
er durch die offene Tür der Großmutter nur eine gute Nacht zu und
nahm das heranspringende Heidi bei der Hand, und unter dem
flimmernden Sternenhimmel hin wanderten die beiden ihrer friedlichen

Hütte zu.

Eine Vergeltung
Am anderen Morgen in der Frühe stieg der Herr Doktor vom Dörfli den
Berg hinan in der Gesellschaft des Peter und seiner Geißen. Der
freundliche Herr versuchte ein paarmal mit dem Geißbuben ein
Gespräch anzuknüpfen, aber es gelang ihm nicht, kaum daß er als
Antwort auf einleitende Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu
hören bekam. Der Peter ließ sich nicht so leicht in ein Gespräch ein. So
wanderte die ganze schweigende Gesellschaft bis hinauf zur Almhütte,
wo schon erwartend das Heidi stand mit seinen beiden Geißen, alle drei
munter und fröhlich wie der frühe Sonnenschein auf allen Höhen.
»Kommst mit?« fragte der Peter, denn als Frage oder als Aufforderung
sprach er jeden Morgen diesen Gedanken aus.
»Freilich, natürlich, wenn der Herr Doktor mitkommt«, gab das Heidi
zurück.
Der Peter sah den Herrn ein wenig von der Seite an.
Jetzt trat der Großvater hinzu, das Mittagsbrotsäckchen in der Hand.
Erst grüßte er den Herrn mit aller Ehrerbietung, dann trat er zum Peter
hin und hing ihm das Säckchen um.
Es war schwerer als sonst, denn der Öhi hatte ein schönes Stück von
dem rötlichen Fleische hineingelegt. Er hatte gedacht, vielleicht gefalle
es dem Herrn droben auf der Weide und er nehme dann gern sein
Mittagsmahl gleich dort mit den Kindern ein. Der Peter lächelte fast
von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, daß da drinnen etwas
Ungewöhnliches versteckt sei.
Nun wurde die Bergfahrt angetreten. Das Heidi wurde ganz von seinen
Geißen umringt, jede wollte zunächst bei ihm sein, und eine schob die
andere immer ein wenig seitwärts. So wurde es eine Zeitlang mitten in
dem Rudel mit fortgeschoben. Aber jetzt stand es still und sagte

ermahnend: »Nun müßt ihr artig vorauslaufen, aber dann nicht immer
wiederkommen und mich drängen und stoßen. Ich muß jetzt ein wenig
mit dem Herrn Doktor gehen.« Dann klopfte es dem Schneehöppli, das
sich immer am nächsten zu ihm hielt, zärtlich auf den Rücken und
ermahnte es noch besonders, nun recht folgsam zu sein. Dann arbeitete
es sich aus dem Rudel heraus und ging nun neben dem Herrn Doktor
her, der es gleich bei der Hand faßte und festhielt. Er mußte jetzt nicht
mit Mühe nach einem Gespräch suchen wie vorher, denn das Heidi fing
gleich an und hatte ihm so viel zu erzählen von den Geißen und ihren
merkwürdigen Einfällen und von den Blumen oben und den Felsen und
Vögeln,
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