Hamburgische Dramaturgie | Page 5

Gotthold Ephraim Lessing
alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet.
Dieser Rat, welcher aus den Bedürfnissen der Kunst hergenommen ist,
welcher uns um weiter nichts als sehr mittelmäßige Stücke bringen
kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwächern Gemütern

zustatten kömmt, die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden,
wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Stätte
gefaßt machen, im Theater zu hören bekommen. Das Theater soll
niemanden, wer es auch sei, Anstoß geben; und ich wünschte, daß es
auch allem genommenen Anstoße vorbeugen könnte und wollte.
Cronegk hatte sein Stück nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges
gebracht. Das übrige hat eine Feder in Wien dazugefüget; eine Feder
--denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der
Ergänzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet,
als sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod löset alle
Verwirrungen am besten; darum läßt er beide sterben, den Olint und die
Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt
sich mit der uneigennützigsten Großmut ihrer an. Cronegk aber hatte
Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten,
wie er zwei Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den
Tod zu Hilfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele,
wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein
Zuschauer seinen Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"--"Woran? am
fünften Akte!" antwortete dieser. In Wahrheit; der fünfte Akt ist eine
garstige böse Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte
ein weit längeres Leben versprachen.--
Doch ich will mich in die Kritik des Stückes nicht tiefer einlassen. So
mittelmäßig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich
schweige von der äußeren Pracht; denn diese Verbesserung unsers
Theaters erfordert nichts als Geld. Die Künste, deren Hilfe dazu nötig
ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande;
nur die Künstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern
Lande.
Man muß mit der Vorstellung eines Stückes zufrieden sein, wenn unter
vier, fünf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet
haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfänger oder sonst ein Notnagel
so sehr beleidiget, daß er über das Ganze die Nase rümpft, der reise
nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der
Lichtputzer ein Garrick ist.

Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber
im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser
Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der
kleinsten noch immer für den ersten Akteur und bedauert, auch nicht
zugleich alle übrige Rollen von ihm sehen zu können. Ein ihm ganz
eigenes Talent ist dieses, daß er Sittensprüche und allgemeine
Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen
Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß, daß
das Trivia1ste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Würde, das
Frostigste Feuer und Leben erhält.
Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem
"Kodrus" und hier, so manche in einer so schönen nachdrücklichen
Kürze ausgedrückt, daß viele von seinen Versen als Sentenzen behalten
und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit
aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch öfters
gefärbtes Glas für Ede1steine, und witzige Antithesen für gesunden
Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte,
hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine,
"Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht."
Die andere,
"Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Bösewicht."
Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und
dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall
ausdrückt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänzlich ausbrechen
läßt. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses
Parterre findet Geschmack an Maximen; auf dieser Bühne könnte sich
ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates würde sie gern
besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch,
wie anstößig diese vermeinten Maximen wären, und ich wünschte sehr,
daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil möge
gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen
bleiben, wo auch bei dem Pöbel das sittliche Gefühl so fein, so zärtlich
war, daß einer unlautern Moral wegen Schauspieler und Dichter Gefahr

liefen, von dem Theater herabgestürmet zu werden! Ich weiß wohl, die
Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der
Person, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der
absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind,
wenn wir gestehen müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation,
bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen können. Aber
auch diese poetische Wahrheit muß sich, auf einer andern Seite, der
absoluten wiederum nähern, und der Dichter muß nie so
unphilosophisch denken, daß er annimmt, ein Mensch könne das Böse,
um des Bösen wegen, wollen,
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