den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen itzt
zu wohl die falschen Märtyrer von den wahren zu unterscheiden; wir
verachten jene ebensosehr, als wir diese verehren, und höchstens
können sie uns eine melancholische Träne über die Blindheit und den
Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit überhaupt in ihnen fähig
erblicken. Doch diese Träne ist keine von den angenehmen, die das
Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu
seinem Helden wählet: daß er ihm ja die lautersten und triftigsten
Bewegungsgründe gebe! daß er ihn ja in die unumgängliche
Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr
bloßstellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht
höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum
Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter
leiden. Ich habe schon berühret, daß es nur ein ebenso nichtswürdiger
Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten,
welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu
entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben,
wo ein solcher Aberglaube allgemein war und bei vielen guten
Eigenschaften bestehen konnte; daß es noch Länder gibt, wo er der
frommen Einfalt nichts Befremdendes haben würde. Denn er schrieb
sein Trauerspiel ebensowenig für jene Zeiten, als er es bestimmte, in
Böhmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei
von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloß schreibet, seinen
Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und
Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen
gefallen, was diese rühren kann, würdiget er zu schreiben. Selbst der
dramatische, wenn er sich zu dem Pöbel herabläßt, läßt sich nur darum
zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in
seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestärken.
Zweites Stück Den 5. Mai 1767
Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel
betreffend, würde über die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So
überzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der
Gnade sein mögen, so wenig können sie uns doch auf dem Theater
gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehöret, aus den
natürlichsten Ursachen entspringen muß. Wunder dulden wir da nur in
der physikalischen Welt; in der moralischen muß alles seinen
ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der
moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgründe zu jedem
Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und
Meinungen, müssen, nach Maßgebung des einmal angenommenen
Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene müssen nie
mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen
können. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schönheiten
des Detail, über Mißverhältnisse dieser Art zu täuschen; aber er täuscht
uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den
Beifall, den er uns abgetäuschet hat, zurück. Dieses auf die vierte Szene
des dritten Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das
Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden hätten
bewegen können, aber viel zu unvermögend sind, Bekehrung an einer
Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim
Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten
Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, daß ihre Eltern
diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstände, durch
welche die Wirkung einer höhern Macht in die Reihe natürlicher
Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es
besser verstanden, wie weit man in diesem Stücke auf dem Theater
gehen dürfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des
Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Großmut und Ermahnungen
bestürmet und bis in das Innerste erschüttert worden, läßt er ihn doch
die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Großes sieht,
mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht würde Voltaire auch diese
Vermutung unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des
Zuschauers etwas hätte geschehen müssen.
Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide
Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer
mehr geworden sind, so dürfte die erste Tragödie, die den Namen einer
christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine
ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.--Ist
ein solches Stück aber auch wohl möglich? Ist der Charakter des
wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die
stille Gelassenheit, die unveränderliche Sanftmut, die seine
wesentlichsten Züge sind, mit dem ganzen Geschäfte der Tragödie,
welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht?
Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden
Glückseligkeit nach diesem Leben der Uneigennützigkeit, mit welcher
wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und
vollzogen zu sehen wünschen?
Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen
kann, wieviel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, diese
Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, wäre also mein
Rat:--man ließe
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